Joseph Petzoldt

Joseph Petzoldt (* 4. November 1862 in Altenburg; † 1. August 1929 in Berlin) war ein deutscher Philosoph und Anhänger des Empiriokritizismus.

Leben

Königliches Gymnasium zu Spandau, um 1910

Während seines Studiums wurde Petzoldt 1882 Mitglied der Burschenschaft Germania Jena.[1] Er promovierte 1890 in Göttingen zum Ökonomieprinzip mit der Arbeit Maxima, Minima und Ökonomie. 1891 trat er eine Stelle als Oberlehrer im Königlichen Gymnasium Spandau an. 1904 habilitierte er sich in Philosophie mit dem zweiten Band seiner Einführung in die Philosophie der Reinen Erfahrung und unterrichtete auch als Privatdozent an der TH Charlottenburg (heute: TU Berlin). 1909 bemühte er sich darum, den als hochbegabt geltenden Schüler Otto Braun privat unterrichten zu dürfen.[2] Im Jahre 1922 wurde er an der TH Charlottenburg zum außerordentlichen Professor für Philosophie ernannt.[3]

Philosophie und Relativitätstheorie

Petzoldts Philosophie,[4][5] die er seit 1912 als „relativistischen Positivismus“ bezeichnete,[P 1] war eine Weiterentwicklung des Empiriokritizismus von Ernst Mach und Richard Avenarius. Vladimir Lenin kritisierte Petzoldt und andere Anhänger Machs in seinem Werk Materialismus und Empiriokritizismus (1909) als angebliche Vertreter eines Solipsismus.[6] Petzoldt war Begründer und erster Vorsitzender der Gesellschaft für positivistische Philosophie (1912–1921) welche u. a. von Albert Einstein und David Hilbert unterstützt wurde, sowie Mitbegründer der Internationalen Gesellschaft für empirische Philosophie (1927).

Wie Hentschel[7] und noch detaillierter Russo Krauss[4][5] zeigten, war Petzoldt ein früher Anhänger und Interpret der Relativitätstheorie: 1912[P 2] und 1914[P 3] fasste er die Theorie als konsequente Umsetzung der Machschen Philosophie bzw. des relativistischen Positivismus auf, und verteidigte die Theorie gegen philosophischer Kritik. Petzoldts Arbeit von 1914 wurde von Einstein sehr wohlwollend aufgenommen: Er empfahl sie öffentlich in einem Zeitungsartikel,[8] und auch privat teilte er Petzoldt seine weitgehende Zustimmung mit (wobei Einstein allerdings Petzoldts fehlerhafte Darstellung des Zwillingsparadoxons korrigieren musste).[9] Bei einem persönlichen Treffen übergab Petzoldt an Einstein eines seiner Bücher[P 1], worauf Einstein in einem Brief an Petzoldt schrieb, er habe „mit Freude“ aus dem Buch entnommen dass er schon längst sein Gesinnungsgenosse gewesen sei.[10] Laut Howard[11] und Russo Krauss[4][5] dürfte auch Petzoldts philosophisches „Gesetz der Eindeutigkeit“ bei Einstein auf Zustimmung gestoßen sein.

Petzoldts radikale empiristisch-positivistische Interpretation der Relativitätstheorie, zusammen mit nicht ausreichendem technischen Verständnis, führte allerdings auch zu grundlegenden Fehlern:[7][4][5] Neben dem genannten Zwillingsparadoxon missverstand er 1919 auch das Ehrenfestsche Paradoxon, was auch ein Briefwechsel mit Einstein und später mit Hans Reichenbach[12] nicht aufklären konnte. Während Petzoldt seine Interpretation der Relativitätstheorie im Sinne des relativistischen Positivismus auch in den 1920er Jahren vertrat,[P 4][P 5] wurde diese Interpretation von Reichenbach und anderen Philosophen wie Moritz Schlick und Ernst Cassirer kritisiert, und auch Einstein bewegte sich weg von der Machschen Philosophie hin zu einem philosophischen Realismus, was schließlich zu einem Ende des Kontakts zwischen Petzoldt und Einstein führte.

Die philosophischen Beziehungen zwischen Petzoldt, Mach und Einstein spielen auch eine Rolle bei der Kontroverse um ein posthum im Jahre 1921 veröffentlichtes Vorwort zu Machs Buch „Optik“, angeblich verfasst im Juli 1913, in welchem dieser die Relativitätstheorie ablehnte. Wolters[13] vertritt nämlich die These, dass dieses Vorwort nicht von Ernst Mach stammt, sondern von seinem anti-relativistischen Sohn Ludwig gefälscht wurde, denn diverse Quellen und Briefe zeigen, dass Ernst Mach um 1913/1914 die Relativitätstheorie keineswegs ablehnte, sondern eine sehr positive Meinung von ihr hatte. Dies wird besonders erhärtet durch einen Brief von Ernst Mach an Petzoldt vom 1. Mai 1914, der folgendermaßen beginnt: „Der beiliegende Brief von Einstein beweist das Eindringen der positivistischen Philosophie in die Physik; Sie können sich darüber freuen. Vor einem Jahr war die Philosophie überhaupt, noch eine bloße Dummheit....“ Gemäß Wolters schreibt Mach hier also an Petzoldt, dass es der positivistischen Philosophie gelungen sei, über die Relativitätstheorie (denn als vielleicht fortgeschrittenste physikalische Theorie setzt sie der Philosophie die Maßstäbe) in die moderne Physik zu gelangen, weswegen die positivistische Philosophie im Unterschied zu anderen Philosophien keine Dummheit mehr sei – somit existiere eine emphatische Äußerung Machs für die Relativitätstheorie, die nach dem angeblichen Vorwort des Juli 1913 verfasst wurde. Wolters berichtet auch von Konflikten zwischen Petzoldt und Ludwig Mach:[13] 1921 veröffentlichte Petzoldt einen Anhang[P 5] zur 8. Auflage von Ernst Machs Buch „Mechanik“, in welchem Petzoldt die Relativitätstheorie als Konsequenz der Machschen Philosophie schilderte, während Ludwig kurz darauf das oben erwähnte (laut Wolters gefälschte) relativitätskritische Vorwort in der „Optik“ veröffentlichte. Nach dem Tode Petzoldts veröffentlichte Ludwig die 9. Auflage der „Mechanik“ (1933), worin Petzoldts Anhang entfernt wurde und stattdessen ein neues Vorwort erschien, in das Ludwig (laut Wolters abermals gefälschte) ablehnende Aussagen Ernst Machs zur Relativitätstheorie einfügte.

Schriften (Auswahl)

  1. a b Das Weltproblem vom Standpunkte des relativistischen Positivismus aus, 2. Auflage 1912; 3. Auflage 1921; Vierte Auflage 1924
  2. s:Die Relativitätstheorie im erkenntnistheoretischen Zusammenhange des relativistischen Positivismus, 1912. Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, 14. Jahrgang, S. 1055–1064.
  3. s:Die Relativitätstheorie der Physik, 1914. Zeitschrift für positivistische Philosophie, Bd. 2, S. 1–56
  4. Die Stellung der Relativitätstheorie in der geistigen Entwicklung der Menschheit, Leipzig, Barth, 1921; 2. vermehrte Auflage 1923.
  5. a b Das Verhältnis der Machschen Gedankenwelt zur Relativitätstheorie, 1921. (Anhang zur achten Auflage von Ernst Machs Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch dargestellt, S. 490ff), Volltext in der Google-Buchsuche
  • Maxima, Minima und Ökonomie, 1891
  • Einführung in die Philosophie der Reinen Erfahrung. Erster Band: Die Bestimmtheit der Seele, 1900
  • Einführung in die Philosophie der Reinen Erfahrung. Zweiter Band: Auf dem Wege zum Dauernden, 1904
  • Sonderschulen für hervorragend Befähigte. Teubner, Leipzig und Berlin 1905. (Reprint 2018: ISBN 978-0-364-32257-4)
  • Das Weltproblem von positivistischem Standpunkte aus. 1906
  • Das allgemeinste Entwicklungsgesetz, 1923
  • Das natürliche Höhenziel der menschheitlichen Entwicklung, 1927

Einzelnachweise und Literatur

  1. Hugo Böttger (Hrsg.): Verzeichnis der Alten Burschenschafter nach dem Stande des Wintersemesters 1911/12. Berlin 1912, S. 151.
  2. Julie Braun-Vogelstein: Otto Braun. Aus nachgelassenen Schriften eines Frühvollendeten. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1920.
  3. Petzold, Joseph, in: Catalogus Professorum TU Berlin. TU Berlin, abgerufen am 31. Dezember 2022.
  4. a b c d Russo Krauss, C.: The Philosophy of Joseph Petzoldt: From Mach's Positivism to Einstein's Relativity. Bloomsbury Publishing, 2023, ISBN 978-1-350-32146-5 (englisch).
  5. a b c d Russo Krauss, C.: A Machian Interpretation of the Theory of Relativity? Joseph Petzoldt’s Reading of Einstein (in "Philosophers and Einstein's Relativity: The Early Philosophical Reception of the Relativistic Revolution"). Hrsg.: Russo Krauss, C., Laino, L. (= Boston Studies in the Philosophy and History of Science. Band 342). 2023, S. 35–64, doi:10.1007/978-3-031-36498-3_2 (englisch).
  6. Wladimir Iljitsch Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie, 1909.
  7. a b Hentschel, K.: Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins. Birkhäuser, Basel—Boston—Bonn 1990, ISBN 978-3-7643-2438-4, doi:10.18419/opus-7182 (uni-stuttgart.de).; Siehe insbesondere Abschnitte 3.4.2 und 4.8.3.
  8. Einstein, A.: Vom Relativitäts-Prinzip. In: Vossische Zeitung. 209. Jahrgang, 26. April 1914, S. 33–34. The Collected Papers of Albert Einstein, Vol. 6: Document 1
  9. Brief Einsteins an Petzoldt vom 14. April 1914 in: "The collected papers of Albert Einstein, Vol. 8a: Document 5.
  10. Brief Einsteins an Petzoldt vom 11. Juni 1914 in: "The collected papers of Albert Einstein, Vol. 8a: Document 13.
  11. Howard, D.: Einstein and Eindeutigkeit: A Neglected Theme in the Philosophical Background to General Relativity. Hrsg.: Eisenstaedt and Kox (= Studies in the History of General Relativity). Birkhäuser, Boston/Basel/Berlin 1992, ISBN 0-8176-3479-7, S. 154—243 (englisch).
  12. Hentschel, K. (Hrsg.): Die Korrespondenz Petzoldt-Reichenbach: Zur Entwicklung der wissenschaftlichen Philosophie in Berlin, Berlin: Sigma, 1990 (= Berliner Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, Heft 12).
  13. a b Wolters, G.: Mach I, Mach II, Einstein und die Relativitätstheorie. Eine Fälschung und ihre Folgen. de Gruyter, Berlin 1987, doi:10.1515/9783110846966.; Brief Machs an Petzoldt S. 187f.; und Diadochenkämpfe zwischen Ludwig Mach und Petzoldt S. 365ff.
  • Walter Dubislav: Joseph Petzoldt in memoriam: Vortrag, gehalten am 15. Oktober 1929 in der Gesellschaft für empirische Philosophie, Ortsgruppe Berlin . In: Annalen der Philosophie und der philosophischen Kritik 8/1, Berlin 1929, S. 289–295.
  • Christian Herrmann: Nachruf: Joseph Petzoldt, in: Kant-Studien 34 (1929), S. 508–510.
  • Horst Müller: Joseph Petzoldt. In: Humanismus und Technik 11/1, Berlin & Frankfurt 1966, S. 33–36.
  • Gerd Graßhoff (Hrsg.): Wittgenstein's World of Mechanics: Including Transcriptions of Lectures by Wittgenstein's Teacher Joseph Petzoldt and Related Texts on Mechanics. Springer, Wien 2006, ISBN 978-3-211-32816-3.
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