Seafarer Fatigue

Bei Seafarer Fatigue (englisch seafarer Seeleute, fatigue Ermüdung) handelt es sich um einen Komplex von Symptomen als Reaktion auf Belastungen aus der Arbeits- und Lebensumgebung Schiff.[1]

Die Ursachen für die Fatigue von Seeleuten liegen oft in Ermangelung eines Schutzes vor körperlicher und mentaler Überlastung und sind in der Berufsschifffahrt einer der Auslöser von Seeunfällen. Sie ist kein neues Phänomen,[2] wurde aber erst ab 1993 systematisch als Problem angegangen.[3]

Regulatorischer Umgang

Seeleute erhalten aufgrund langer Fahrtzeiten und des Lebens an Bord später als andere Berufsgruppen (fach-)ärztliche Betreuung und Aufklärung in Fragen der Gesundheit. Sie müssen ihre Tätigkeit unter den nach Kriterien der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) auf unter Billigflagge fahrenden Schiffen bei „Substandard-Arbeitsbedingungen“ ausüben.[4][5]

Die steigende Anzahl von Schiffsunfällen führte u. a. zur weltweiten Einführung der stichprobenartig durchgeführten Hafenstaatkontrolle, die das weltweit bekannte „Wegschauen“ der Flaggenstaaten im Rahmen der Möglichkeiten einer Hafenstaatkontrolle zumindest teilweise kompensieren soll.[6][7]

Der Begriff der „Seetüchtigkeit“ schließt die mentale und physische Eignung der Besatzungsangehörigen ein und wurde in Zusammenhang mit den seit 1998 geltenden Vorschriften des International Safety Management Code eingeführt.[8] Eine IMO-Resolution des Jahres 1993 führte zu einer Klassifizierung von Ermüdungsfaktoren.[9] Das Thema wurde 1998 weiter präzisiert und führte zu Richtlinien der IMO für die Analyse des Gesundheitszustandes von Schiffspersonal.[10][11] Besonders die großen Versicherer in der Schifffahrt drängten vermehrt auf Durchsetzung der Hafenstaatkontrolle in Bezug auf die Besatzungen in ebenso korrekter Weise, wie diese bei der Überprüfung des technischen Zustands von Schiffen der Fall ist.[12][13]

Im Jahr 2001 ergänzte die IMO den ISM-Code mit weiteren Richtlinien zu Fatigue.[14][15] Dabei geht es um Arbeitsschutzbestimmungen, um Unfall- und Ursachenforschung.

In Deutschland erschienen die IMO-Richtlinien im Jahr 2002 als „Richtlinie zur Linderung von Fatigue (Übermüdung) und Fatigue-Management“[16] und beim Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH).[17] Letztere Veröffentlichung rückte Fatigue-Faktoren bei Bemannung und Sicherheit von Schiffen, damit auch die Klassifizierung von Fatigue-Faktoren in Kategorien sowie die mögliche Begründung von Schadensersatzansprüchen in das Bewusstsein der Beteiligten.

Medizinische Erkenntnisse

Übermüdung im Sinne von Seafarer Fatigue wird beschrieben als „eine Reduzierung der physischen und / oder mentalen Fähigkeiten als Folge physischer, mentaler oder emotionaler Anstrengung, die nahezu alle physischen Fähigkeiten wie Kraft, Schnelligkeit, Reaktionszeit, Koordination, Entscheidungsfindung oder Gleichgewichtssinn beeinträchtigt.“ Die zum Thema „menschliches Verhalten in Notfällen“ beschriebenen langwierigen schweren Beeinträchtigungen durch psychische Störungen beinhalten oft auch eine Depression. Relevante Erkenntnisse des Zusammenwirkens unterschiedlicher Faktoren benötigen einen psychopathologischen Befund des Patienten.[14]

Gesicherte medizinische Erkenntnisse, hier insbesondere zu psychischen Erkrankungen inkl. Depression in der kleinen Berufsgruppe der Seeleute, stehen maritimen und medizinischen Experten, ggf. auch Juristen anhand der Dokumente der IMO zur Verfügung, um von Medizinern gestellte Diagnosen vor dem Hintergrund der besonderen Bedingungen der Seeschifffahrt und Lebenswirklichkeit von Seeleuten[18] einzuordnen und berücksichtigen zu können.

Ursachenforschung

Seafarer Fatigue ist Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, die zu einer Vielzahl von Veröffentlichungen geführt hat. Das Seafarers International Research Centre (SIRC) an der Universität Cardiff ist seit dem Jahr 1995 auf dem Gebiet besonders anerkannt.[19][20] Die SIRC-Publikation „Lost at Sea and Lost At Home: the Predicament of Seafaring Families“ beschrieb bereits im Jahr 2003 Ursachen von Seafarer Fatigue und Auswirkungen auch auf die Familien der Seeleute.[21][22][23]

Allgemein werden unausweichliche Extrembelastungen und Schlafentzug[24] auf See als Ursache der Seafarer Fatigue genannt.[25] Defekte Klimaanlagen tragen zu der ohnehin vorhandenen ständigen Geräuschkulisse an Bord bei.[26]

Weil Seeleute in ihrer von Landverhältnissen deutlich abweichenden Lebenswirklichkeit auf See vom Rest der Weltbevölkerung isoliert arbeiten und leben, wurde für die Ursachenforschung von Seafarer Fatigue am 12. Juni 2001 von der IMO eine „Coping-Strategy“ veröffentlicht.[14]

Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse

Ausreichend Schlaf ist nur mit wirksamen Ruhezeiten möglich. Bei allen beruflichen Tätigkeiten sowohl an Land als auch auf See sollte die Ruhezeit gemäß arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in der Norm DIN EN ISO 10075 „eine vollständige Erholung von Ermüdungseffekten der vorangegangenen Schicht“ sicherstellen.[27] Dies kann im „24/7 Schichtdienst“ auf den Meeren insbesondere beim Durchfahren der Zeitzonen praktisch nicht gewährleistet werden und führte daher in der Vergangenheit immer wieder zu Schiffsunfällen mit extremen Umweltschäden wie z. B. beim Unglück der Exxon Valdez, so dass bei Seeleuten in der Berufsschifffahrt auftretende extreme Belastungssituationen inkl. unausweichlichem Schlafentzug aus unterschiedlichsten Gründen aus der maritimen Umgebung heraus international als Seafarer Fatigue bekannt sind. Die Nachrichten für Seefahrer (NfS) veröffentlichten daher vergleichbare Publikationen in 2002 unter dem Titel IMO-Richtlinie zur Linderung von Fatigue (Übermüdung) und Fatigue-Management, um ausreichend Schlaf mit wirksamen Ruhezeiten sicherstellen zu können bzw. um auch die „Fehlersuche“ unterstützen zu können.

Arbeitsrechtliche Aspekte (Deutschland)

In Deutschland ist die Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft Post-Logistik Telekommunikation (BG Verkehr) für die Frage von Entschädigung im Falle eines anzuerkennenden Arbeitsunfalls wegen Seafarer Fatigue zuständig.[28]

Nationale Rechtsgrundlage in Deutschland ist für Seeleute die Unfallverhütungsvorschrift Seeschifffahrt.[29] Die Richtlinie zur Linderung von Seafarer Fatigue und Fatigue-Management[17] beschreibt den Weg zur Ermittlung von Ursachen von Ermüdung und Übermüdung. In der Unfallverhütungsvorschrift Seeschifffahrt wird eine nicht abschließende Aufzählung von Kriterien zur Verfügung gestellt, die auch die Ermüdung und Übermüdung von Seeleuten objektiv überprüfbar machen sollen. Zwei Instrumente zur strukturierten Sicherheitsplanung stellt die IMO mit dem 'Formal Safety Assessment' (FSA) in Kombination mit dem 'Human Element Analysing Process' (HEAP) zur Verfügung.[10]

Die international geltende „Maritime Labour Convention 2006“ (kurz: „MLC 2006“) ist in Deutschland als Seearbeitsübereinkommen bekannt und beinhaltet mit „Regulation 2.3 Hours of work and rest“ eine arbeitsrechtlich wichtige Grundlage für wirksame Ruhezeiten an Bord von Schiffen zur Linderung bzw. Vermeidung von „Seafarer Fatigue“ im organisatorischen Rahmen von Regelungen zu Arbeitszeit („work“) und bzgl. Zeit zur Erholung („rest“) als eine wesentliche Ergänzung der deutschen „Unfallverhütungsvorschrift Seeschifffahrt“.[30]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Jørgen Riis Jepsen, Zhiwei Zhao, Wessel M. A. van Leeuwen: Seafarer fatigue: a review of risk factors, consequences for seafarers’ health and safety and options for mitigation. In: National Library of Medicine. 2015, PMID 26119681 (englisch).
  2. Karl-Heinz Reger: »Dann sprang er über Bord«. Alltagspsychologie und psychische Erkrankung an Bord britischer Schiffe im 19. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 978-3-525-30066-4.
  3. Christoph Ilg: Die Rechtsetzungstätigkeit der International Maritime Organization. Zur Bedeutung der IMO bei der Weiterentwicklung des Meeresumweltrechts. Dissertation, Universität Tübingen, 2001. DNB 962163635
  4. Großer Pott, große Depression. In: SPIEGEL. 5. Oktober 2017, abgerufen am 5. August 2021.
  5. Birger Nicolai: Isolation, Stress, Gewalt – das knallharte Arbeitsleben auf hoher See. In: Die Welt. 1. Januar 2020, abgerufen am 5. August 2021.
  6. Myriam Lemke: Erfüllungsdefizite des Flaggenstaats. Auf dem Weg zu einer neuen Erfüllungsstrategie der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) zum Schutz der Meeresumwelt? Nomos, Baden-Baden 2011, ISBN 978-3-8329-6591-4.
  7. Lehrfilm Shining a light on work-related stress 2017 – Go Home Healthy. von Health and Safety Executive auf YouTube (abgerufen am 5. August 2021).
  8. „MS Methusalem“: See- und Ladungstüchtigkeit. Vortrag von Tobias Eckardt, Ahlers & Vogel, abgerufen am 6. Juli 2021.
  9. IMO-Resolution A.772 (18) Fatigue factors in manning and safety als Download verfügbar auf er Website der International Maritime Organization (IMO), abgerufen am 31. Juli 2021.
  10. a b MSC/Circ.878 - MEPC/Circ.346 – Interim Guidelines for the Application of Human Element Analysing Process (HEAP) to the IMO Rule-Making Process (2013). Download auf der Website der International Maritime Organization (IMO), abgerufen am 31. Juli 2021.
  11. ISM-Code – Die Wende in der Schiffssicherheit? Vortrag von Herrn Kapt. P. Zahalka, Verein Bremer Seeversicherer e. V., Mai 1998 in Würzburg. In: Transport-Informations-Service. Abgerufen am 5. August 2021.
  12. Lloyd’s Register – LR Technical Association (Hrsg.): Port State Control: The Substandard Ship, Paper Nr. 1, Session 1998–1999. Selbstverlag, 71 Fenchurch Street, London EC3M 4BS 1998, S. 11–14.
  13. Fatigue (13) – Alert! Maritime Education & Training. Lehrfilm von The Nautical Institute und Lloyd’s Register auf YouTube (abgerufen am 31. Juli 2021).
  14. a b c Internationale Seeschifffahrts-Organisation – IMO (Hrsg.): MSC/Circ.1014: Guidance on Fatigue Mitigation and Management,. Selbstverlag, 4 Albert Embankment, London SE1 7SR 12. Juni 2001, S. 105 Seiten.
  15. IMO Guidelines on Fatigue. IMO-Online Publikation. Als Download verfügbar auf der Website der International Maritime Organization (IMO), abgerufen am 31. Juli 2021.
  16. „Richtlinie zur Linderung von Fatigue (Übermüdung) und Fatigue-Management“ / Verkehrsblatt-Dokument Nr. B 8107, Hrsg.: Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Abteilung Luft-, Raumfahrt und Schifffahrt, 2002. DNB 969142900
  17. a b Richtlinie zur Linderung von Fatigue (Übermüdung) und Fatigue-Management. Beilage zum NfS-Heft 18/2002 als BSH-Online-Publikationen vom Bundesamt für Schifffahrt und Hydrographie, abgerufen am 24. März 2020.
  18. Joanna Szafran-Dobrowolska, Marta Grubman-Nowak, Marcin Renke, Maria Jeżewska: The psychosocial burden and stress coping strategies among seafarers . In: International Maritime Health, 2023; 74(2): S. 122–128. doi:10.5603/IMH.2023.0018
  19. Homepage von Seafarers International Research Centre (SIRC) als „Part of Cardiff University School of Social Sciences“, abgerufen am 31. Juli 2021.
  20. „SIRC free online reports“ – Übersicht mit verfügbaren PDF-Downloads (englisch)
  21. Michelle Thomas: Lost at Sea and Lost At Home: the Predicament of Seafaring Families. 2003, ISBN 1-900174-18-9. Online (PDF; 1,1 MB) auf der Website der Cardiff University (englisch), abgerufen am 31. Juli 2021.
  22. Die Familie mitnehmen – Auswirkungen des Lebens auf See untersucht. (PDF; 568 kB) In: ver.di Report Schifffahrt 02 / 2004, Seite 12 (PDF), abgerufen am 31. Juli 2021.
  23. Jens-Uwe Schröder: Zur Ermittlung von Unfallursachen und begünstigenden Faktoren für Unfälle in der Seeschifffahrt. Dissertation, Bergische Universität Wuppertal, 2003. DNB 971583455, abgerufen am 31. Juli 2021
  24. Zu Schlafentzug siehe Publikation: „Seafarer Fatigue: The Importance Of Good Night Sleep“ (Englisch) In: marineinsight | Marine Safety | Last Updated on January 20, 2022 unter marineinsight.com; Abgerufen am 4. März 2022
  25. Lehrfilm von „Centre for Occupational & Health Psychology“ an der Cardiff University „Seafarers Fatigue Film - Cardiff University“ bzw. „Fatigue at Sea – The Cardiff University Research Programme & Industry perspectives“ auf YouTube (englisch), abgerufen am 31. Juli 2021
  26. N. Turgo, I. Acejo, N. Ellis, H. Sampson: Changes in seafarers’ health 2011–2016: A summary report. (PDF; 2,6 MB) Cardiff University 2017, ISBN 1-900174-49-9.
  27. Evangelia Demerouti: Psychische Belastung und Beanspruchung am Arbeitsplatz – inklusive DIN EN ISO 10075-1 bis -3. Deutsches Institut für Normung, Beuth Verlag Berlin; Wien; Zürich, 1. Aufl. 2012, ISBN 978-3-410-22078-7. (Hier: EN ISO 10075-2:2000, S. 7, Punkt 4.2.3.2.)
  28. Seearbeitsgesetz (SeeArbG) § 129 Umfang der Flaggenstaatkontrolle bei gesetze-im-internet.de, Hrsg.: Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, abgerufen am 6. Juli 2021.
  29. Unfallverhütungsvorschrift Seeschiffahrt – DGUV Vorschrift 84 (PDF; 649 kB) als Download verfügbar auf der Website der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (Publikationen) abgerufen am 31. Juli 2021.
  30. Die global agierende THE MISSION TO SEAFARERS zu Seafarer Fatigue und zum rechtlichen Rahmen der Arbeitszeiten-Regelung in der Maritime Labour Convention (2006): Regulation 2.3; Hours of work and rest – sie ist eine 1856 für Seeleute in der Handelsschifffahrt geschaffene christliche Wohlfahrtsorganisation mit Sitz in London unter langjähriger Schirmherrschaft der brit. Königin; Link abgerufen am 21. Aug. 2022.
  31. Publikation “Fatigue: die Übermüdung als Sicherheitsrisiko an Bord …” (1999) von Siegfried Ehlbeck und Christa Hempel-Küter im Katalog des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes
  32. International Transport Workers’ Federation: Seafarer Fatigue: Wake Up to the Dangers. ITF, 2002 (google.de [abgerufen am 8. August 2021]).