„Evolution (Begriff)“ – Versionsunterschied

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[[Datei:Modell der universalen Evolution.png|mini|hochkant=2|Evolution im Sinne eines universalen Prozesses<ref>Vollmer 2016, S.&nbsp;20, 28, 142</ref><ref>Luc Saner (Hrsg.): ''Studium generale: Auf dem Weg zu einem allgemeinen Teil der Wissenschaften.'' Springer Spektrum, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-04157-1, S. 20.</ref>]]
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{{Belege fehlen|2=Dieser Artikel}}
'''Evolution''' (vom [[latein]]ischen ''evolvere'' = abwickeln, entwickeln; [[Partizip Perfekt Passiv|PPP]] ''evolutum'') ist in der [[Systemtheorie]] ein [[Prozess]], bei dem durch [[Reproduktion]] oder [[Replikation]] von einem [[System]] Kopien hergestellt werden, die sich voneinander und von ihrem Ursprungssystem durch [[Genetische Variation|Variation]] unterscheiden und bei dem nur ein Teil dieser Kopien auf Grund von [[Selektion (Evolution)|Selektion]] für einen weiteren Kopiervorgang zugelassen werden.


== Evolution im Allgemeinen ==
Der Begriff '''Evolution''' (von {{laS|evolvere}} „herausrollen“, „auswickeln“, „entwickeln“) bezieht sich im weiten Sinne auf Formen langfristiger [[Entwicklung]]en [[Komplexes System|komplexer Systeme]], die zu größerer Vielfalt und neuen, [[Emergenz|vorher nicht existenten Phänomenen]] führen.
=== Voraussetzungen der Evolution ===


Die Evolution ist an drei notwendige Voraussetzungen gebunden:
Im [[Gemeinsprache|allgemeinen Sprachgebrauch]] ist ''Evolution''<ref name="Lexikon Biologie">[https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/evolution/23154 Stichwort ''Evolution'' im Lexikon der Biologie auf spektrum.de], Spektrum, Heidelberg 1999, abgerufen am 1. September 2023.</ref>
* in erster Linie die [[Evolution|biologische Evolution]]: Die von Generation zu Generation stattfindende allmähliche Veränderung organischer Strukturen durch [[Evolutionäre Anpassung|Anpassung]],
* der Gegensatz von sehr langsamer, für den Beobachter „unmerklichen“ Entwicklung zur plötzlichen und relativ schnellen ''[[Revolution]],''
* eine „Höherentwicklung“ von primitiven zu [[fortschritt]]lichen – schnelleren, widerstandsfähigeren, [[Wirkungsgrad|effizienteren]] – Formen.


# Das Vorhandensein von ''[[Replikatorgleichungen|Replikatoren]]'',
Fachsprachlich wird der Begriff heute nicht nur in der Biologie verwendet, sondern ebenso in den anderen [[Naturwissenschaft]]en einschließlich der [[Anthropologie]] sowie in einigen [[Geisteswissenschaft|Geistes-]] und [[Interdisziplinäre Wissenschaft|interdisziplinären Wissenschaften]] bis hin zur Idee einer [[#Allgemeine Evolutionstheorie|'''Allgemeinen''' oder '''Universalen Evolutionstheorie''']]. Für eine übergreifende Definition finden sich nur Vorschläge. Eine beispielhafte, sehr allgemeine Definition stammt von Luc Saner, der 2001 die Initiative „Einheit der Wissenschaft und echtes [[Studium generale]]“ gründete, die mittlerweile von 25 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Forschung in der Schweiz und 21 in Deutschland (Stand: Januar 2023) unterstützt wird.<ref>''Mitglieder des Komitees für die Einheit der Wissenschaft und ein echtes Studium generale,'' [http://www.aubonsens.ch/studium_generale/Auszug%20Mitglieder%20des%20Komitees.pdf PDF] abgerufen am 28. Februar 2024.</ref> Saner bezeichnet die Evolution als Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Weltbildes:<ref name="Saner">[[Akademien der Wissenschaften Schweiz]] (Hrsg.), Luc Saner (Autor): ''Allgemeiner Teil der Wissenschaften. Auf dem Weg zur Einheit der Wissenschaft und zu einem echten Studium generale.'' Bern 2023, ISBN 978-3-905870-01-5, [[DOI:10.5281/zenodo.7764971]], abgerufen am 27. Februar 2024, S.&nbsp;5 (Initiative), 23–24 (Evolution als Grundlage), 41 (Zitat)</ref>
# eine schwankende Kopiergenauigkeit, ''[[Genetische Variation|Variation]]'' genannt, sowie
# eine unterschiedliche Wahrscheinlichkeit einer jeden Variante, als Element in jene Stichprobe zu gelangen, aus der die nachfolgende Population zusammengesetzt wird: ''[[Selektion (Evolution)|Selektion]]''.


Diese Voraussetzungen sind hinreichend [[trivial]], so dass man logisch ableiten kann, dass sie an vielen Orten und Gelegenheiten im Universum gegeben sind. Die Ansichten darüber, ob sich [[Leben]] daraus entwickeln ''muss'', gehen jedoch weit auseinander.
{{Zitat
|Unter Evolution werden […] insbesondere die kosmische, die biologische und auch die kulturelle Evolution verstanden. Gemeinsames Merkmal der so verstandenen Evolution ist, dass sich in einem Wechselspiel von Veränderung und Stabilität tendenziell aus einfachen komplexe Strukturen bilden. Derartige Strukturen können sowohl physischer als auch psychischer, insbesondere geistiger Natur sein.
|Luc Saner
|<ref name="Saner" />}}


=== Die Schwankung von Replikatorenhäufigkeiten in einer Population ===
Die aktuell vorliegenden Definitionen reichen von extremen Verkürzungen (etwa im Sinne des ersten Satzes in diesem Artikel) bis zu sehr detaillierten Beschreibungen. Die folgende Fassung eines verallgemeinerten Evolutionsbegriffes wurde aus der Zusammenfassung der übereinstimmenden Merkmale verschiedenster, detaillierter Definitionen abgeleitet:


Als Evolution bezeichnet man heute allgemein jenen statistischen Vorgang, bei dem die Zusammensetzung einer Replikatoren-Population P2 aus einer Stichprobe einer zuvor bestehenden, anderen Replikatoren-Population P1 bestimmt wird. Wird aus P1 eine Stichprobe unterschiedlicher Replikatoren gezogen und aus ihr die Zusammensetzung von P2 bestimmt, so liegt Evolution vor. Läuft dieser Vorgang wiederholt ab, so weisen spätere Populationen –&nbsp;wie beispielsweise P5 oder P100&nbsp;– jeweils schwankende Zusammensetzungen auf.
* ''Evolution'' ist die fortwährende Entwicklung [[Autopoiesis|sich selbst erschaffender und erhaltender]] [[System]]e in nicht [[Vorhersagbarer Prozess|vorhersagbaren]], [[Irreversibler Prozess|nicht umkehrbaren]] und nicht wiederholbaren Ereignissen, die zu neuartigen, im Durchschnitt [[Komplexität|komplexeren]] Strukturen führen. Dabei weisen die Veränderungen eine starke Richtungskomponente auf, da selbst die Folgen [[Zufall#Objektiver Zufall|(objektiver) Zufälle]] durch die Reaktionen bereits bestehender „[[Regelkreis]]e“ oder [[Naturgesetz]]e im Sinne der [[Selbstorganisation]] gelenkt werden.<ref name="Lexikon Biologie" /><ref>Vollmer 2016, S. 20, 29–30.</ref><ref name="Ebeling">[[Werner Ebeling (Physiker)|Werner Ebeling]]: ''Selbstorganisation – Entwicklung des Konzeptes und neue Anwendungen.'' Festvortrag auf dem Leibniztag 2003, [[Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin|Leibniz-Sozietät]]/Sitzungsberichte 60(2003)4, 37–47, [https://leibnizsozietaet.de/wp-content/uploads/2012/11/05_ebeling.pdf PDF] abgerufen am 9. September 2023. S. 42–43.</ref><ref name="Blume">[[Michael Blume]]: ''Was bedeutet Evolution für Sie?'' Beitrag auf [https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/was-bedeutet-evolution-f-r-sie/ scilogs.spektrum.de] vom 12. Februar 2012, Spektrum der Wissenschaft, abgerufen am 31. August 2023.</ref>


Eine evolutionsfähige [[Population (Biologie)|Population]] ist eine Menge von Replikatoren. Letztere sind irgendwelche Objekte, von denen Kopien entstehen.
:Infolgedessen ist Evolution die Entwicklung [[Kohärenztheorie|aufeinander bezogener Einzelschritte in einem Gesamtzusammenhang]], der in Jahrmillionen durch [[qualitatives Wachstum]] – sprich: einer zunehmenden „Verfeinerung“ der Strukturen sowie Ausdifferenzierung neuer Funktionen und Möglichkeiten in Subsystemen<ref>Reinhard Wagner: ''Vermittlung systemwissenschaftlicher Grundkonzepte.'' Diplomarbeit, Karl-Franzens-Universität Graz, Berlin 2002, [https://www.fraktalwelt.de/systeme/rw_diplomarbeit.pdf PDF] abgerufen am 25. September 2023. S.&nbsp;49.</ref> – zu hochgradig [[Vernetzung|vernetzten]] [[Komplexes System|Komplexen Systemen]] geführt hat.<ref name="Nönnig">Jörg Rainer Nönnig: ''ARCHITEKTUR SPRACHE KOMPLEXITÄT'', hier Essay III: ''Exkurs: Das Phänomen Komplexität.'' Dissertation an der [[Bauhaus-Universität Weimar]], Weimar 2006, [https://e-pub.uni-weimar.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/931/file/Noennig_pdfa.pdf PDF], abgerufen am 10. September 2023. S.&nbsp;73, 78, 86–87.</ref><ref>Gabriela Straubinger: ''Komplexität - Wie interdisziplinäre Teams mit komplexen Aufgabenstellungen umgehen,'' hier Theoretische Grundlagen, Kapitel ''2. Wissenschaftlicher Bezugsrahmen von Komplexität.'' Masterarbeit an der [[Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften]], Zürich 2010, [https://digitalcollection.zhaw.ch/bitstream/11475/874/1/ma0018.pdf PDF] abgerufen am 11. September 2023. S.&nbsp;13–14.</ref>


Die Evolution als statistischer Vorgang ist ein [[Logik|logisch]] und [[empirisch]] jederzeit beweisbares [[Faktum]] und in der Wissenschaft ''nicht bestreitbar''. Evolution läuft niemals an Objekten, sondern immer nur an Häufigkeiten von Objekten ab. Er kann grundsätzlich an allen Mengen ablaufen, die nicht einmal den bekannten physikalischen Gesetzen gehorchen müssen.
Diese Beschreibung spiegelt die verbreitete Auffassung wider, den biologischen Evolutionsbegriff vorwiegend „nach oben“ (menschliche Fähigkeiten, Psyche, Kultur, Maschinen) und nur geringfügig „nach unten“ ([[Chemische Evolution|Präbiologische Prozesse]]) zu erweitern.<ref>Vollmer 2016, S.&nbsp;34–35, 42.</ref>


== Verlauf der Evolution auf der Erde ==
Jegliche Evolutionsprozesse wirken der [[Physikalisches Gesetz|physikalischen Gesetzmäßigkeit]] des zunehmenden Zerfalls von Strukturen (der [[Entropie]]zunahme nach dem [[Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik|zweiten Hauptsatz der Thermodynamik]]) entgegen, da sie zunehmende Ordnung bewirken.<ref>[[Michael Köhler (Chemiker)|Michael Köhler]]: ''Entropie-Wende.'' Technische Universität Ilmenau, 2019, [[DOI:10.22032/dbt.39378]], S.&nbsp;36–54, insbes. 40, 45</ref> Wie dies angesichts der viel höheren Wahrscheinlichkeit zunehmender Unordnung im Universum zu erklären ist, konnte bislang nicht geklärt werden. Es gibt kein [[physikalisches Gesetz]], dass zur Komplexitätszunahme führt, worauf bereits [[Teilhard de Chardin]] hinwies.<ref name="Spät">[[Patrick Spät]]: ''Panpsychismus: ein Lösungsvorschlag zum Leib-Seele-Problem.'' Dissertation, FreiDok der Universität Freiburg, Freiburg 2010, [https://freidok.uni-freiburg.de/data/7608 PDF], abgerufen am 17. Juni 2023, S.&nbsp;2–4, (Inspiration von Whitehead u. Teilhard), 4, 91–93, (Eovlution), 81–86 (Emergenz), 92–93 (Evolutionärer Vorteil von Bewusstsein), 165–167 (Wahrscheinlichkeit der Evolution nach Teilhard de Chardin).</ref>
[[Datei:Zeitleiste Evolution.png|right|Schema zu den Entwicklungsstufen von Kosmos, Lebewesen und Menschheit]]
Evolution im hier definierten Sinn findet auf der Erde im Reich der Lebewesen statt. Der Begriff „Evolution“ wird außerhalb der Biologie teilweise anders definiert, für Vorgänge, die nach anderen Gesetzmäßigkeiten als „Replikation –> Variation –> Selektion“ verlaufen. Dies betrifft beispielsweise die Entstehung und Entwicklung von Galaxien, Sternen und Planeten inklusive der Erde; in den Gesellschaftswissenschaften unter anderem die soziokulturelle Entwicklung des Menschen und in der Systemtheorie die Entwicklung von Computerprogrammen. Die Gemeinsamkeit aller Vorgänge beruht auf einer geschichtlichen Entwicklung und häufig einer Entwicklung in Richtung höherer Komplexität. Aus biologischer Sicht kann diese synonyme Begriffsverwendung leicht zu Missverständnissen führen und ist insofern misslich.


== Teilbereiche der Evolution ==
Der Begriff ''Evolution'' ist häufig deutlich [[Weltanschauung|weltanschaulich]] geprägt,<ref name="Blume" /> liegt in einem Spannungsfeld zwischen [[Materialismus]] und [[Kreationismus]] und hat sich in der Geschichte vielfach deutlich gewandelt.
=== Evolution der unbelebten Materie ===


Dieses Thema beschäftigt sich mit dem Ursprung und der Entwicklung des Universums, dessen Teilchen und Elementen. Folgende Artikel befassen sich mit der Thematik:
== Etymologie ==
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[[Datei:Ernst Haeckel, Anthropogenie. Wellcome L0027291.jpg|mini|Die „vorherbestimmte“ [[Ontogenese]] von der Keimzelle bis zum Neugeborenen bestimmte über Jahrhunderte die Idee der ''Evolution'']]
[[Datei:Kette der Wesen, Scala Naturae, Charles Bonnet (1781).jpeg|mini|Die „Stufenleiter der Natur“ (nach [[Charles Bonnet]] 1781), lange Zeit Teil evolutionärer Vorstellungen]]
[[Datei:The evolution of man- a popular exposition of the principal points of human ontogeny and phylogeny. From the German of Ernst Haeckel (1897) (14781685685).jpg|mini|Haeckels Darstellung ''Evolution des Menschen'' von 1897 stellt schwarzafrikanische Menschen auf eine Stufe mit den Menschenaffen]]


* [[Kosmologie]]
{{Zitat
* [[Chemische Evolution]]
|Die Menschen begannen, die Evolution von Weltennebeln und Sternen, von Sprachen und Werkzeugen, von chemischen Elementen, von sozialen Organisationen zu untersuchen. Sie gingen am Ende dazu über, das ganze Universum sub specie evolutionis zu betrachten und aus dem Begriff der Entwicklung ein allumfassendes Konzept zu machen. Diese Verallgemeinerung von Darwins Grundidee – der Evolution auf natürlichem Wege – vermittelt uns eine neue Sicht vom Kosmos und von unserer menschlichen Bestimmung. [...] Alles Bestehende kann in gewisser Hinsicht als Evolution bezeichnet werden. Die biologische Evolution ist nur ein Sektor oder eine Phase des allgemeinen Evolutionsprozesses.
|[[Julian Huxley]]<ref>Vollmer 2016, S. 24</ref>}}


=== Evolution der Lebewesen ===
Das Wort ''Evolution'' ist abgeleitet vom lateinischen Verb ''ēvolvere'', das „hinauswälzen, enthüllen, auseinanderrollen, entwickeln“ bedeutet, sowie dem daraus [[Verbalabstraktum|abgeleiteten Substantiv]] ''ēvolūtio,'' womit ursprünglich das Ausrollen und Lesen einer [[Schriftrolle]] gemeint war. [[Etymologisch]] hat sich der Begriff mehrmals gewandelt: Die Form ''évolution'' findet sich in der frühen [[Französische Sprache|neufranzösischen Sprache]] als militärischer Fachbegriff, mit dem die „Exerzierbewegung eines Truppenteils oder die Veränderung des Truppenkörpers in Form und Ausdehnung“ bezeichnet wurde. Um 1700 gelangt es in die [[Neuhochdeutsche Sprache]]. Als Fachbegriff der lateinischen Wissenschaftssprache des 18. Jahrhunderts ist das Wort etwa in Mathematik, Musikwissenschaft und Biologie im Sinne von „allmählich fortschreitender Entwicklung von Zusammenhängen“ vielfach vertreten.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.dwds.de/wb/etymwb/Evolution |titel=Evolution |werk=Etymologisches Wörterbuch des Deutschen - dwds.de |abruf=2023-10-20}}</ref>


Die Evolution der Lebewesen ist ihre Entwicklung im Laufe großer Zeitspannen innerhalb der Erdgeschichte.
Besondere Bedeutung gewinnt der Begriff in der philosophischen Diskussion der [[Aufklärung]] als Ausdruck für die „[[Ontogenese|Entfaltung eines Organismus]]“ in der [[Präformationslehre]],<ref name="Ifrim et al. 2022">Christina Ifrim, Miriam Haidle, Oliver Schlaudt, Michael Wink: ''Evolution.'' In Thomas Meier, Frank Keppler, Ute Mager, Ulrich Platt, Friederike Reents (Hrsg.): ''Umwelt interdisziplinär. Grundlagen – Konzepte – Handlungsfelder.'' Heidelberg University Publishing 2022, [[doi:10.11588/heidok.00031285]]. PDF-Seiten: 2–3 (Begriff), 28–29 (Kulturelle Evolution).</ref> die davon ausging, dass alle Lebewesen bereits in den [[Gamet|Keimzellen]] in Miniaturform voll ausgebildet vorlägen und nur noch wachsen müssten. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts mehrten sich die Kritiken an dieser Theorie und die ersten [[Epigenese|epigenetischen]] Entwicklungshypothesen wurden vorgelegt, die den Begriff ''Evolution'' nun zu einer „fortschreitenden Neubildung immer komplexerer Strukturen“ in der Natur umdeuteten.<ref name="Kradolfer">Carla Aubry Kradolfer: ''Evolution gleich Fortschritt?'' Soziologisches Institut der Universität Zürich, März 2004, [http://socio.ch/evo/t_aubry.pdf PDF], abgerufen am 1. September 2023. S. 3, 6–7, 15–16, 26–28.</ref>


Siehe dazu:
Nach [[Stephen Toulmin]] führen diese Hypothesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer ersten umfassenden „Evolutionsidee“, die auf alle Entwicklungen im Universum – [[Universum|Kosmos]], [[Materie]], [[Leben]], [[Mensch]] und [[Fortschritt]] – bezogen wurde. So sah [[Jean-Baptiste de Lamarck]] – der Begründer der ersten umfassenden biologischen [[Evolutionstheorie]] – und viele seiner Zeitgenossen die Evolution als Ausdruck schöpferisch gestaltender Kräfte, die vom Anbeginn der Welt bis in alle Zukunft zu immer komplexeren, differenzierten und spezialisierteren Formen führe – allerdings immer mit dem Menschen als Ziel und „[[Krone der Schöpfung]]“. Im Unterschied zu Darwins Evolutionstheorie ''(als grundlegender Theorie der Evolution des Lebens und allen darauf aufbauenden modernen Theorien der [[Biologie]])'' setzen die [[Geschichte der Evolutionstheorie|älteren Entwürfe]] bei den Lebewesen einen vorgegebenen Entwicklungsplan voraus, der – ausgelöst durch Umwelteinflüsse – zu immer neuen und „besseren“ Stufen im Rahmen einer permanenten „Höherentwicklung“ führt. Die Verwandtschaft der Arten, mögliche „Rückentwicklungen“ oder Aussterbeereignisse, eine gemeinsame Abstammung<ref>[[Peter Bowler]]: ''Fortschritt und Degeneration.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.20–21.</ref> oder die wechselwirkende Selbstorganisation verbundener Systeme ist in diesen Vorstellung noch nicht oder nur ansatzweise enthalten. Auch Lamarck postuliert nicht ''ein'' vorherbestimmtes Ziel, jedoch eines von vielen bereits ''vorgegebenen'' Möglichkeiten. Zu beachten ist die [[Beurteilung|Bewertung]] als „Höherentwicklung“; eine Idee, die der modernen Vorstellung von einer ''bestmöglichen Anpassung'' an die herrschenden Bedingungen erheblich widerspricht.<ref name="Kradolfer" />
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* [[Evolution|Biologische Evolution]]
* [[Evolutionstheorie]]
* [[Synthetische Evolutionstheorie]]


<!-- Vor allem wissenschaftlich gebildete Gegner der Evolutionstheorie unterscheiden zwischen [[Mikroevolution|Mikro-]] und [[Makroevolution]]. Die unbestreitbaren Belege für die Evolution fassen sie unter dem Begriff Mikroevolution zusammen, während sie die Entwicklung der heutigen Lebewesen aus primitiveren Formen als Makroevolution ablehnen. [wird bei den oben angegebenen Links richtiger und besser dargestellt] -->
Als [[Charles Darwin]] 1859 die erste Ausgabe der ''[[Über die Entstehung der Arten|Entstehung der Arten]]'' veröffentlichte, fand sich das Wort ''Evolution'' nur am Rande erwähnt und ohne engen Bedeutungszusammenhang.<ref name="Blume" /> Darwin sprach stattdessen von der ''[[Abstammungstheorie|Deszendenztheorie]]'' (Abstammungslehre), die er vor allem als rückblickende Betrachung verstand.<ref name="Sarasin/Sommer Vorwort">Sarasin/Sommer 2010, S. VII–VIII.</ref> Erst nachdem [[Herbert Spencer]] den Begriff in seiner Theorie einer [[Soziokulturelle Evolution|kulturellen Evolution]] im Sinne der [[Phylogenese|Stammesgeschichte]] benutzte, verwendete ihn auch Darwin 1872 in der sechsten Auflage seines Hauptwerkes in dieser Weise.<ref>Vollmer 2016, S. 15.</ref> Es wird auch angenommen, dass sich Darwin davon mehr Anerkennung erhoffte, da die ältere Vorstellung von ''Evolution'' als ''[[Fortschritt]] und Höherentwicklung auf der „[[Stufenleiter der Natur]]“'' in der damaligen englischen Gesellschaft enorm populär war.<ref>Asmuth/Poser 2007, S. 70.</ref> Diese Vorstellung beruht auf dem ursprünglichen Wortsinn einer „Entfaltung eines bereits festliegenden Zustandes“ – wie bei der [[Ontogenese]] vom Embryo zum erwachsenen Menschen.


=== Evolution der Psyche ===
In der Folgezeit setzte sich der populäre Begriff – noch als [[Synthese]] aus Darwins Evolutionsfaktoren und der von Spencer betonten Idee der Höherentwicklung – in der Fachwelt relativ schnell durch und ersetzte Darwins Deszendenzbegriff<ref>Sarasin/Sommer Vorwort, S.&nbsp; 314."</ref> (der heute einen Teilbereich der Evolutionstheorie bezeichnet).


Unter bestimmten Bedingungen führt die Evolution zu [[Organismen]], die über ein [[Bewusstsein]] verfügen. Dieser Entwicklungsprozess ist Gegenstand der [[Evolutionäre Psychologie|Evolutionären Psychologie]].
Während der Evolutionsbegriff in den Wissenschaften nach wie vor ''nicht'' auf die Biologie beschränkt blieb,<ref name="Blume" /> wird er im Alltagsverständnis hingegen oft und unmittelbar mit Darwin verknüpft. Seit Mitte der 1970er-Jahre ist damit – trotz des Begriffswandels in der Fachwelt – immer noch eine „ständige Höherentwicklung durch allmähliche Veränderungen“ verknüpft.<ref name="Kradolfer" /> Diese Vorstellung ist eine Nachwirkung des ''[[Evolutionismus]]'', mit dem bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die angebliche Höherentwicklung auf die menschliche [[Kultur]] bezogen wurde. Die daraus folgende Unterscheidung von mehr oder weniger entwickelten Kulturformen führte zum [[Sozialdarwinismus]], der die Evolutionstheorie zur Rechtfertigung von [[Imperialismus]] und [[Rassismus]] verbog. Der menschenverachtende Missbrauch dieser Vorstellungen durch [[Drittes Reich|Nazi-Deutschland]] führte in den [[Biowissenschaften|Bio-]] und [[Humanwissenschaft]]en für einige Jahrzehnte zu einem weitgehenden Stillstand der Evolutionsforschung.<ref name="Sarasin/Sommer Vorwort" />


=== Evolution des Geistes ===
Ohne Hinzufügung verweist das Wort ''Evolution'' heute auch in den Wissenschaften vorrangig auf die biologische Theorie. Doch kaum ein Wissenschaftler bestreitet, dass ''Prozesse jeglicher Art,'' die in Eigendynamik über lange Zeiträume zunehmende Vielfalt und Komplexität hervorbringen, als ''evolutionär'' betrachtet werden können.<ref name="Ifrim et al. 2022" /> Auch wenn die Diskussion um die genaue Bedeutung des Evolutionsbegriffes nach wie vor kontrovers ist, löst er sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend von der Biologie und beeinflusst sehr viele andere Fachgebiete. Während die Idee einer [[Teleologie|vorherbestimmten Richtung]] des Lebens von der Fachwelt endgültig verworfen wurde (außer im [[Kreationismus]]; vor allem in den USA), ist die Vorstellung einer gewissen Zielgerichtetheit in anderen Zusammenhängen wesentlich unklarer.<ref name="Sarasin/Sommer Vorwort" />


In der Philosophie über lebende Systeme betrachtet man die wissenschaftliche Entwicklung als eine Fortsetzung der biologischen Evolution und spricht von einer Evolution des Geistes:
Je nach Fachrichtung, in der eine „bestimmte Form von Evolution“ betrachtet wird, bekommt der Begriffsinhalt eine etwas andere Gewichtung: Für Astronomen ist Evolution zumeist kaum mehr als eine Metapher für die Entwicklung des Universums. In der [[Molekularbiologie]] verliert die Selektion ihre Rolle als zwingender Mechanismus der Evolution.<ref>Ingo Brigandt: ''Jenseits des Neodarwinismus? Neuere Entwicklungen in der Evolutionsbiologie.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;121.</ref> In der [[Mikrobiologie]] ist Evolution ein direkt beobachtbarer Vorgang mit bedingt vorhersagbaren Wirkungen,<ref>Magdalena Nauerth: ''Die Geburt des Kollektivs.'' Artikel auf der Website der Max-Planck-Gesellschaft vom 5 .Juli 2021, [https://www.mpg.de/17151384/bakterien-matten-organismus online] abgerufen am 3. Februar 2024.</ref> während [[Informatik]]er darin in erster Linie einen funktionablen ''Optimierungsprozess'' sehen, um mit Hilfe digitaler Reproduktion, Variation und Selektion die besten Lösungen für eine Problemstellung zu finden.<ref>[[Manuela Lenzen]]: ''Informatik (Künstliche Intelligenz und Robotik.'' In. Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;243.</ref>


Lebewesen seien Träger genetisch gespeicherter Informationen. In der Evolution sammle sich mehr und genauere Information in den Lebewesen an. Der Mensch sei als einziges Lebewesen in der Lage, seine geistigen, im Gehirn gespeicherten Informationen auch außerhalb des Körpers zu speichern, zum Beispiel in Büchern oder auf Disketten. Diese Informationen, unter anderem die wissenschaftlichen Ideen (als „geistige Gene“ betrachtet), könnten an alle Menschen und die Nachwelt „vererbt“ werden. Die Mittel der Evolution, nämlich Vermehrung mit Varianten und deren Selektion, setzten sich fort als wissenschaftliche Hypothesenbildungen und deren Prüfung im Versuch.
== Moderne Verwendungen ==
[[Datei:Nature timespiral horizontal layout white background.png|mini|hochkant=1.5|Die Geschichte des Universums wird auch als durchgehende Evolution interpretiert]]


=== Evolution der Meme ===
{{Zitat
|Evolution liegt durchweg ein komplexer Mechanismus zugrunde, der zu einem Wechselspiel zwischen zunehmender Komplexität und zunehmendem Wettbewerb führt.
|Christina Ifrim, Miriam Haidle, Oliver Schlaudt und Michael Wink<ref name="Ifrim et al. 2022" />}}


Aufgrund zahlreicher empirischer Belege glaubt man heute einheitlich, dass die Evolution auf unserem Planeten nicht immer an denselben Replikatoren abgelaufen sein muss. Die Welt der Lebewesen, wie wir sie heute kennen, basierte zwar auf weiten Strecken auf einem chemischen Replikator, der [[DNA]], sie ist jedoch nicht der einzige Replikator. Als weitere Replikatoren erwiesen sich beispielsweise Kristallstrukturen, die ebenfalls Kopien von sich selbst herstellen können. Auch informationstragende Einheiten, die nicht an eine chemische, sondern an eine (bio-)informatische Grundlage gebunden sind, werden als Replikatoren begriffen und wurden von [[Richard Dawkins]] 1976 als [[Mem]]e bezeichnet.
Eine ''Evolution'' immer komplexerer Ordnungsstrukturen durch die „arbeitsteilige“ Verbindung bestehender Systeme hin zu neuen Systemstrukturen, ist faktisch in allen Prozessen der natürlichen Umwelt wie auch künstlicher Produkte zu finden: {{"|Komplexe Organe formieren sich zu komplexeren Organismen, komplexe Maschinen zu komplexeren Systemen, komplexe Individuen zu komplexeren Gesellschaften etc. Organismische ebenso wie wissenschaftliche, technische oder gesellschaftliche Entwicklungen sind auf höhere Komplexitätsgrade gerichtet, auf eine kontinuierliche Potenzierung ihrer Ordnungsgrade und Organisationsstrukturen.}}<ref name="Nönnig" /> Die meisten Veränderungen in der Natur sind evolutionäre Prozesse, da sie nicht umkehrbar und nicht wiederholbar sind.<ref>Vollmer 2016, S. 20.</ref>


=== Evolutorische Ökonomik ===
Spätestens seit sich die [[Systemtheorie|systemtheoretische]] Erkenntnis, dass nicht nur das [[Leben]], sondern alle natürlichen Strukturen und Zusammenhänge selbstorganisierende ''[[Komplexes System|komplexe Systeme]]'' sind, für die die gleichen Regeln und Mechanismen gelten, wird auch ''Evolution'' – ungefähr im eingangs beschriebenen Sinne – als Prozess verstanden, der in allen diesen Zusammenhängen auftritt. Der Umfang der Diskussionen um die Evolutionsidee war im „Darwinjahr“ 2009 bereits kaum noch zu überblicken.<ref name="Sarasin/Sommer Vorwort" /> Bereits im [[Meyers Konversations-Lexikon|Meyers Konversationslexikon]] von 1889 findet man unter dem Stichwort ''Evolutionstheorie'' die sehr weit gefasste Beschreibung als die Lehre von einem einheitlichen Entwicklungsprozess {{"|im gesamten Weltall, [...] dem sich sämtliche Zustände und Erscheinungsformen der anorganischen und organischen Natur, also auch der Himmelskörper unterordnen.}}<ref name="Sarasin/Sommer 127">[[Georg Toepfer]]: ''Generelle Evolutionstheorie.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;127 mit Zitat zu ''Meyers Konversationslexikon'', Bd. 5, 1889, S.&nbsp;552.</ref>


In Form der [[Evolutionsökonomik|evolutorischen Ökonomik]] haben Gedanken der biologischen Evolution auch Eingang in die Wirtschaftswissenschaften gefunden. Hintergrund ist, dass durch freie Märkte eine Selektion unter konkurrierenden Produkten oder Produktionsverfahren stattfindet, in der sich erwünschtere Produkte und effizientere Verfahren gegen weniger gewünschte und ineffizientere durchsetzen. Ständige Produkt[[innovation]]en führen so zu einer ständigen Weiterentwicklung, die –&nbsp;wie in der biologischen Evolution&nbsp;– Untersuchungsgegenstand ist. Während in der Biologie aber die Variationen oder Mutationen nur als zufällig modelliert werden, sind sie in der evolutorischen Ökonomik ebenfalls Untersuchungsgegenstand.
Auch in gegenwärtigen Enzyklopädien wird neben der biologischen auch eine kosmologische und chemische Evolution genannt, womit wiederum die gesamte Natur abgedeckt ist.<ref name="Sarasin/Sommer 127" /> Da sich die Mechanismen der biologischen Evolution etwa auf [[Physikalisches System|physikalische]] und kosmische Systeme nach Ansicht der meisten Wissenschaftler nicht übertragen lassen, ist weder mit einer allgemein anerkannten Definition, noch einer verbindenden, disziplinübergreifenden ''[[#Allgemeine Evolutionstheorie|Allgemeinen Evolutionstheorie]]'' zu rechnen.<ref name="Sarasin/Sommer 127" /> Insofern wird der Begriff ''Evolution'' in den verschiedenen Fächern und von den etlichen Autoren sehr unterschiedlich verwendet: Das reicht von einer „schwachen“ philosophischen Verwendung im Sinne einer [[Metapher]] über diverse, mehr oder weniger fachbezogene „weite“ Definitionen, bis hin zu eindeutigen „engen“ [[Empirie|empirischen]] Anknüpfungen an die biologische Evolution durch umfassende Theorien.<ref name="Sarasin/Sommer Vorwort" /> Letzter sind in der Regel am vorangestellten, groß geschriebenen Adjektiv ''Evolutionär(e)'' zu erkennen.<ref>Vollmer 2016, S. 28.</ref>


== Beispiele ==
Einige Autoren geben zu bedenken, dass zu große Vereinfachungen den [[Begriff]] ''inhaltsleer'' machen, sodass er zum Synonym von ''Entwicklung, Erscheinen, Entstehung, Auftreten'' u.ä. wird, ohne sich davon konkret abzugrenzen. Der Philosoph [[Carl Gustav Hempel]] nennt Ansätze, die Evolution soweit herunterbrechen, ''Story'' statt [[Theorie]], da der Begriff in dieser Form nichts mehr erklären würde.<ref>Vollmer 2016, S. 33, 36.</ref>
=== Kettenbriefe ===


: '''Kopieren''': Ein [[Kettenbrief]], der auf konventionelle Art als Brief per Post verschickt wird, muss zunächst vervielfacht werden. Dies geschah früher mit [[Durchschlagpapier]], später mit Hilfe des [[Fotokopierer]]s. Beide Verfahren erzeugen noch keine Varianten, sondern identische Kopien, führen aber dazu, dass früher oder später Briefe entstehen, die an manchen Stellen unleserlich sind.
[[Gerhard Vollmer]] zählt neben der biologischen Evolution 43 verschiedene Wissenschaften und 14 philosophische Lehren, in denen der Evolutionsbegriff – in einer der genannten Bedeutungen – verwendet wird.<ref>Vollmer 2016, S. 16, 36.</ref>
: '''Variieren''': Solche Briefe werden neu abgeschrieben. Dabei führt das Rekonstruieren der unleserlichen Stellen oft zum Einsetzen von Wörtern, die nicht im Ursprungsbrief enthalten waren. Auch wird von einigen Personen, die Kettenbriefe weiterleiten, der Inhalt bewusst verändert, zum Beispiel bei der Höhe des Gewinns, wenn der Kettenbrief weitergeleitet wird oder bei der Art der [[Sanktion]]en, wenn er nicht weitergeleitet wird.
: '''Auswählen''': Eine Selektion wird durch den Empfänger vorgenommen. Er entscheidet, ob er den Brief kopiert, in welcher Stückzahl er ihn kopiert oder ob er ihn nicht verschickt und damit die Kette für die entsprechende Version des Kettenbriefes abbrechen lässt.


Bei Kettenbriefen, die als E-Mail verbreitet werden, entfällt die Kopierungenauigkeit. Es gibt für diese Art der Kettenbriefe noch keine Untersuchungen darüber, ob Empfänger den Text bewusst ändern, um ihrer Version eine größere Verbreitung zu ermöglichen.<ref>Charles H. Bennett et al.: ''Die Evolution der Kettenbriefe''. In: ''Spektrum der Wissenschaft''. Januar 2004, S. 78 ff.</ref>
=== Darwinscher (biologischer) Evolutionsbegriff ===
[[Datei:Charles Darwin, English naturlist, colored.jpg|mini|Charles Darwin, Begründer der modernen Evolutionstheorien]]


=== Selbstreplizierende künstliche organische Moleküle ===
Der engste, auf die Biologie reduzierte Evolutionsbegriff fasst darunter (nur) die Veränderung genetisch [[Heritabilität|vererbbarer Merkmale]]; also in erster Line eine Änderung der [[Allelfrequenz|Genfrequenz]] (d.h. der Häufigkeit eines [[Gen]]s) in einer [[Population (Biologie)|Population]]. Dabei geht es weder um die Entstehung des ersten Lebens – die ''Abiogenese'' bzw. ''chemische Evolution'' – noch um die [[Emergenz]] neuer Lebensbereiche wie die ''kulturelle Evolution.'' Trotz dieser Abgrenzung ist es in der Regel unstrittig, dass der biologischen Evolution eine (Selbst-)Organisation von Materie vorausging und die spätere Entwicklung kultureller Fähigkeiten wie Werkzeuggebrauch oder Sprache(n) wiederum erhebliche Rückwirkungen auf die biologische Evolution haben.<ref name="Blume" />


[[Datei:ARNI.png|mini|300px|Komplex aus einem Replikatormolekül (unten) und den zwei Bausteinen (oben), die zu einem vollständigen Molekül verknüpft werden. Die intermolekularen Bindungen sind [[Wasserstoffbrückenbindung]]en (hellblau) und [[Van-der-Waals-Wechselwirkung]]en (grau). – A = [[Adenin]]-, R = [[Ribose]]-, N = [[Naphthalin]]-, I = [[Imid]]-Baustein. (Als Ribose-Baustein wurde ein Derivat eines 2,3-Di-O-isopropyliden-β-D-ribofuranosids verwendet, der Imid-Baustein basierte auf der (1α, 3α, 5α)-1,3,5-Trimethyl-1,3,5-cyclohexantricarbonsäure.)]]
Die biologische [[Evolutionstheorie]] beruht im Wesentlichen auf den drei Mechanismen
* ''[[Genetische Variation|Variation]],'',
* ''[[Selektion (Evolution)|Selektion]]'' und
* ''[[Reproduktion]]'',
die sowohl [[Charles Darwin]]<ref name="Schurz">[[Gerhard Schurz]]: ''Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie.'' Spektrum, Heidelberg 2011, [[doi:10.1007/978-3-8274-2666-6_1]], ISBN 978-3-8274-2665-9, S.&nbsp;131.</ref><ref name="Vollmer 16/28">Vollmer 2016, S. 16, 17, 24–25, 28</ref> als auch [[Alfred Russel Wallace]] 1858 zeitgleich erstmals in ihren Ausarbeitungen formulierten.<ref>Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;19 (Peter Bowler: ''Evolution.''), 47–49 (Christina Brandt: ''Reproduktion.''), 53 ([[Staffan Müller-Wille]]: ''Variation''), 66, 73–75 (Staffan Müller-Wille: ''Evolutionstheorien vor Darwin.''), 87 ([[Nicolaas Adrianus Rupke]]: ''Theorien zur Entstehung der Arten bis um 1860.'')</ref>


: '''Kopieren''': [[Komplementarität|Selbstkomplementäre]] Moleküle haben die Voraussetzung, die Synthese von gleichen oder ähnlichen Molekülen [[Autokatalyse|autokatalytisch]] zu ermöglichen. Dabei bilden [[Matrize (Genetik)|Matrizenmolekül]] (''Replikator'') und Bausteine einen Komplex, der stabil genug ist, die Verknüpfung der Bausteine zu einem neuen Replikatormolekül zu ermöglichen, das sich vom Matrizenmolekül wieder löst und selbst als Matrize für die Bildung eines weiteren Moleküls dienen kann. Das in der Abbildung angegebene Beispielmolekül ist zwar replikationsfähig, nicht aber evolutionsfähig, da es nur exakte Kopien seiner selbst katalysiert.
Zusammen mit den Erkenntnissen der [[Vererbungslehre]] – die von [[Gregor Mendel]] zwischen 1856 und 1865 begründet wurde, jedoch Darwin und Wallace nicht bekannt war – entstand in den 1930er und 1940er Jahren die [[Synthetische Evolutionstheorie]], die der Evolution des Lebens vor allem die Mechanismen
: '''Variieren''': Katalysiert ein Replikatormolekül nicht nur exakte Kopien seiner selbst, sondern auch Varianten, die selbst wieder als Matrizen dienen, können in einem entsprechenden Versuchsansatz verschiedene Arten von Replikatormolekülen entstehen.
* ''[[Mutation]],''
: '''Auswählen''': Unter geeigneten Bedingungen kommt es zur Ausbildung von Replikatormolekülen, die sich in ihrer Replikationsgeschwindigkeiten unterscheiden und in Konkurrenz um Bausteinmoleküle unterschiedlich „erfolgreich“ sind. Befinden sich zum Beispiel in einem Reaktionsgefäß die Bausteine DIX (ein Diamino[[triazin]]-[[Xanthen]]), AR (Adenin-Ribose), T ([[Thymin]]) und BI ([[Biphenylamid]]) finden sich nach einiger Zeit Replikatormoleküle in einer ihrer Replikationsgeschwindigkeit entsprechenden Konzentration: DIXBI (nicht replikationsfähig), DIXT, ARBI und ART (größte Replikationsgeschwindigkeit).<ref>Julius Rebek jr.: ''Künstliche Moleküle, die sich vermehren''. In: ''Spektrum der Wissenschaft''. September 1994, S. 67 ff.</ref>
* ''[[Rekombination (Genetik)|Rekombination]]'' und
* ''[[Gendrift]]''
(zusammenfassend auch als [[Molekulare Evolution]] bezeichnet) hinzufügte und die Betrachtung damit deutlich in Richtung [[Genetik]] verschob.<ref>Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;11 ([[Michael Ruse]]: ''Darwinismus''), 43 (Manfred Laubichler: ''Organismus.''), 102 ([[Marcel Weber (Philosoph)|Marcel Weber]]: ''Genetik und Moderne Synthese.''), 115 (Ingo Brigandt: ''Jenseits des Neodarwinismus? Neuere Entwicklungen in der Evolutionsbiologie.'').</ref><ref>Ulrich Kutschera: ''Evolution.'' In: S. Maloy, K. Hughes, (Hrsg.): ''Brenner's Encyclopedia of Genetics.'' Vol. 2, Elsevier, New York 1937, S. 541–544.</ref> Die Synthetische Theorie, deren Entstehung von [[August Weismann]] seit 1892 eingeleitet und die 1937 erstmals von [[Theodosius Dobzhansky]]<ref>Theodosius Dobzhansky: ''Genetics and the Origin of Species.'' Columbia University Press, New York 1937.</ref> und 1942 durch [[Ernst Walter Mayr|Ernst Mayr]]<ref name="Mayr-1942">Ernst Mayr: ''Systematics and the Origin of Species from a Viewpoint of a Zoologist.'' Harvard University Press, Cambridge 1942</ref> und [[Julian Huxley]]<ref name="Huxley-1942">Julian Huxley: ''Evolution – The Modern Synthesis. The Definitive Edition, with a Foreword by Massimo Pigliucci and Gerd B. Müller.'' (1942). MIT Press, Cambridge 2010.</ref> etabliert wurde, ist heute das Standardmodell der biologischen Evolutionstheorie.


== Siehe auch ==
Nicht mit der Theorie erklärbare Phänomene führten in den 1970er Jahren zur ''[[Systemtheorie der Evolution]] (u.a. entwickelt von [[Rupert Riedl]]),'' die den Fokus von der Zellebene wieder auf das ganze Lebewesen, die Populationen und ihre Umwelt verlagerte. (Die ''Systemtheorie der Evolution'' darf nicht verwechselt werden mit dem ''[[#Evolutionsbegriff der modernen Systemtheorie|Evolutionsbegriff der modernen Systemtheorie]]'').


* [[Quasispezies]]
==== Chemische Evolution ====
Als ''[[chemische Evolution]]'' oder ''Abiogenese'' bezeichnet man die Entstehung von [[Lebewesen]] aus [[Anorganische Chemie|anorganischen]] und [[Organische Chemie|organischen]] Stoffen.<ref>{{Literatur |Autor=Martina Preiner |Titel=Schöne, alte RNA Welt |Sammelwerk=[[Spektrum.de]] |Datum=2016 |Seiten=1 |Online=http://www.spektrum.de/news/stand-die-rna-am-anfang-des-lebens/1413735}}</ref><ref>{{Internetquelle |url=http://www.spektrum.de/lexikon/biochemie/abiogenese/14 |titel=Abiogenese |werk=Lexikon der Biochemie |abruf=2017-11-26}}</ref> Sie basiert nach heutigem Kenntnisstand vollends auf den Mechanismen der biologischen Evolution; lediglich die Reproduktion wird auf der molekularen Ebene durch ''[[Replikation]]'' (Vervielfältigung) oder ''[[Inversion (Chemie)|Retention]]'' (Konfigurationserhalt) ersetzt.


== Referenzen ==
Die Theoriebildung begann in den 1920er Jahren mit verschiedenen spekulativen Hypothesen. 1953 gelang das „Ursuppen-Experiment“ von [[Stanley Miller]] und [[Harold Clayton Urey|Harold C. Urey]], die damit den darwinschen Evolutionsbegriff um die Enstehung der Lebewesen erweiterten.<ref>{{Internetquelle |autor=Kara Rogers |url=https://www.britannica.com/science/abiogenesis |titel=Abiogenesis |werk=[[Encyclopædia Britannica]] |abruf=2017-11-26}}</ref> Eine abgeschlossene Theorie der chemischen Evolution exitiert bislang noch nicht.


<references />
Insbesondere die Forschungen von [[Manfred Eigen]] in den 1970er Jahren haben dazu geführt, evolutionäre Prozesse nicht nur auf komplette Organismen zu beziehen, sondern direkt auf die sich duplizierenden [[Nukleinsäuren]], bei denen Eigen im Reagenzglas (an [[Quasispezies]]) [[Selbstorganisation|selbstorganisierende]] Replikations- und Mutationsvorgänge beschrieben hat.<ref>[[Peter Schuster (Chemiker)|Peter Schuster]]: ''Ursprung des Lebens und Evolution von Molekülen.'' Universität Wien 1999, [https://www.tbi.univie.ac.at/~pks/PublicLectures/ursprung-1999.pdf PDF] abgerufen am 21. Januar 2024.S.&nbsp;5–6.</ref>

==== Soziokulturelle Evolution ====
[[Datei:Amerind Language Tree.png|mini|Evolution der [[Amerindische Sprachen|amerindischen Sprachen]]: [[Sprachevolution]] ist ein typisches Beispiel für soziokulturelle Evolution]]
[[Datei:Evolution of helmets.jpg|mini|Die technische Evolution von [[Helm]]formen nach Bashford Dean, 1920]]

[[Herbert Spencer]] popularisierte seit 1864 den Begriff der Evolution für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung, auf die er die biologischen Prinzipien erweiterte. [[Kultur]] wird hier definiert als langfristig bestehende [[Verhalten (Biologie)|Verhaltensweisen]] in verschiedenen Populationen von Menschen und Tieren, wie etwa Werkzeuggebrauch, [[Sprache]] und soziale Institutionen. Während die Faktoren ''Variation'' und ''Selektion'' sich problemlos auch auf soziokulturelle Phänomene übertragen lassen, wird alternativ zur genetischen ''Reproduktion'' der Mechanismus der ''[[Tradition#Tradition im Sinne von Tradierung|Tradierung]]'' (Prozess der Entstehung von Traditionen) verwendet. Analog zum Gen als Informationsträger und Replikationseinheit führte [[Richard Dawkins]] 1976 den abstrakten Begriff ''[[Mem]]'' für die [[soziokulturelle Evolution]] ein.<ref>Schurz 2011, S. XIV.</ref>

Die Bildung neuer Varianten und Selektionsprozesse laufen über [[Sozialkognitive Lerntheorie|Nachahmung]], bewusstes [[Lehren]] oder [[transgenerationale Weitergabe]] quantitativ gesehen wesentlich schneller ab als die biologische Vererbung. Qualitativ ermöglicht Tradierung die ''direkte'' Weitergabe erworbener Eigenschaften an die Nachkommen;<ref name="Ifrim et al. 2022" /> ein Mechanismus, der in der Biologie im Rahmen der [[Epigenetik]] diskutiert wird, jedoch dort etwa bei Säugetieren keinen Einfluss auf dauerhafte Veränderungen hat.<ref>Volker Henn: ''Epigenetik: Lamarck hatte (teilweise) recht.'' In: [https://www.wissensschau.de/genom/epigenetik_lamarck_evolution.php wissensschau.de] vom 26. Oktober 2022, abgerufen am 18. Januar 2024.</ref>

Mit der Enstehtung des [[Sozialdarwinismus]] gegen Ende des 19. Jahrhunderts (klassische Vertreter dieser Richtung waren wiederum Herbert Spencer, sowie [[Edward Tylor]] und [[Lewis Henry Morgan]])<ref>Borsos Balázs: ''Warten auf den neuen Steward. Ökologische Anthropologie und der Neoevolutionismus.'' In: ''Acta Ethnologica Danubiana'' 7 (2005), S.&nbsp;23–42. [http://ethnodanubia.eu/2017/05/19/warten-auf-den-neuen-steward/ Volltext online]</ref> bekam der Begriff ''Evolution'' im Zusammenhang mit dem Menschen eine negative [[Konnotation]]: Die missbräuchliche Auslegung des [[Darwinismus]], bei dem das metaphorische [[Schlagwort (Linguistik)|Schlagwort]] vom „[[Kampf ums Dasein]]“ als Überlegenheit und Recht des Stärkeren um das Überleben in menschlichen Gesellschaften interpretiert wurde, nutzten politische Strömungen, um beispielsweise [[Eugenik]], „[[Rassenhygiene]]“ oder [[Ausbeutung]] zu rechtfertigen.<ref>Sarasin/Sommer 2010, S. VIII, 33–35.</ref>

Soziokulturelle Evolution behauptet heute nicht mehr, dass es zwischen Kulturen so etwas wie einen evolutionären Konkurrenzkampf sowie angeblich unterschiedliche Kulturhöhen gäbe.<ref name="Ifrim et al. 2022" />

Praktisch alle Evolutionstheorien der [[Geisteswissenschaft|Geistes-]] und [[Sozialwissenschaft]]en, die zum Teil auf andere (ältere) Vordenker als Darwin zurückgehen (etwa [[Auguste Comte]] oder [[Emile Durkheim]]),<ref name="Kradolfer" /> wurden später mit seiner Evolutionstheorie verknüpft.

Die folgende Liste nennt einige Gebiete soziokultureller Wissenschaften, in denen der Begriff der Evolution heute verwendet wird:

* [[Evolution der Religionen]]
* [[Evolutionsökonomik|Wirtschaftliche Evolution]]
* [[Betriebswirtschaftliche Evolution]]
* [[Technische Evolution]]
* [[Wissenschaftstheorie#Historischer Überblick|Evolution der Wissenschaft]]
* [[Sprachentwicklung|Sprachliche Evolution]]

==== Weitere abgeleitete Theorien ====
Wie bereits erwähnt, deutet das Adjektiv „Evolutionär“ fast immer auf direkte Ableitungen bzw. Teilgebiete der heute vertretenen biologischen oder soziokulturellen Evolutionslehren – wie etwa:
* [[Evolutionäre Anthropologie]]
* [[Evolutionäre Psychologie]], [[Evolutionäre Emotionsforschung]], [[Evolutionäre Erkenntnistheorie]]
* [[Evolutionäre Ethik]], [[Evolutionärer Humanismus]], [[Evolutionäre Ästhetik]]
* [[Evolutionärer Algorithmus|Evolutionäre Schnittstellenoptimierung]], [[Evolutionäre Bildverarbeitung]], [[Evolutionäres Design]]
* [[Evolutionäres Management]], [[Evolutionäre Finanzmarktforschung]]
* [[Evolutionäre Kunst]]

Ebenso beziehen sich die [[Evolutionsökonomik]] und die [[Evolution des Denkens]] direkt auf die biologische Evolution und ihre Mechanismen.

==== Allgemeine Evolutionstheorie ====
Biologen und Sozialwissenschaftler verstehen unter der Bezeichnung '''Allgemeine Evolutionstheorie''' in erster Linie theoretische Entwürfe, mit der eine Verallgemeinerung bzw. Zusammenfassung der biologischen und soziokulturellen Theorien (und Teiltheorien) herbeigeführt werden soll. Bedeutende Vertreter sind [[Friedrich August von Hayek]] ([[Friedrich August von Hayek#Evolutionsökonomik|Evolutionsökonomik]] – 1969, 1938), [[Jacques Monod (Biologe)|Jacques Monod]] ([[Zufall und Notwendigkeit]] – 1970), [[Gregory Bateson]]([[Gregory Bateson#Geist und Natur|Geist und Natur]] – 1982) und [[Kenneth Ewart Boulding]] ([[Kenneth Ewart Boulding#Wissenschaftliche Leistungen|Evolutionäre Ökonomie]] – 1978).<ref>[[Joachim Wolf (Wirtschaftswissenschaftler)|Joachim Wolf]]: ''Organisation, Management, Unternehmensführung – Theorien, Praxisbeispiele und Kritik.'' 6. Auflage, Springer Gabler, Wiesbaden 2011, [https://www.spowi.uni-jena.de/iswmedia/sportoekonomie/hiwi/studium/wise/spezialprobleme/thema-9.pdf PDF] abgerufen am 26. Januar 2024, ISBN 978-3-658-30306-8, S.&nbsp;378.</ref>

Darüber hinaus ist ''Allgemeine Evolutionstheorie'' häufig gleichbedeutend mit Hypothesen zur [[#Universelle Evolution|universellen Evolution]], die von der Astronomie über die Biologie bis hin zum technischen Fortschritt alles umfasst.

=== Physikalisch-kosmische Evolution ===
[[Datei:The History of the Universe.jpg|mini|hochkant=1.3|Kosmische Evolution]]

{{Zitat
|Sterne mögen sterben und geboren werden. Aber sie legen keine Eier.
|[[Ulf von Rauchhaupt]]<ref>Ulf von Rauchhaupt: ''Astronomie und Kosmologie.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;213.</ref>
}}

Die unumkehrbaren Vorgänge ''nach'' dem initialen Urknallereignis werden heute häufig als ''[[kosmische Evolution]]'' bezeichnet, die zur Bildung, zur Veränderung und zum Verfall großräumiger ''physikalischer'' Strukturen im Universum führen.<ref>[[Erwin Sedlmayr]]: ''Evolution und Kosmos.'' In Asmuth/Poser 2007, S. 210, 214.</ref>

In [[Kosmologie]] und [[Astrophysik]] sind Bezeichnungen wie „[[Stellare Evolution|Stellare]]“, „[[Galaktische Evolution|Galaktische]]“ oder „Kosmische Evolution“ gängig; doch dabei handelt es sich praktisch immer um eine sehr weite Auslegung des Begriffes im Sinne einer [[Analogie (Sprachwissenschaft)|Analogie]] oder Metapher.<ref name="Vollmer 16/28" /> Bei der kosmischen Entwicklung gibt es keine Vererbung oder Anpassung, solche Prozesse haben häufig einen vorausberechenbaren Endzustand<ref>Schurz 2011, S. 144.</ref> und hinter der Begriffsverwendung steht keine ''evolutionäre Theorie''. Darüber hinausgehende Konkretisierungen sind meist philosophisch-hypothetische Spekulationen.<ref name="Sarasin/Sommer 212–214">Ulf von Rauchhaupt: ''Astronomie und Kosmologie.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;212–214.</ref> ''Evolution'' ist hier synonym mit ''Entwicklung''. Lediglich die Annahme eines kosmischen Wandels über die Zeit nach einzelnen Ereignissen wird in jüngerer Zeit bisweilen mit der biologischen Evolution verglichen.<ref>Richard H. Beyler: ''Physik.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;290–291.</ref>

==== Begriffsgeschichte der ''Kosmischen Evolution'' ====
[[Datei:Immanuel Kant als Quantenphysiker I.jpg|mini|Immanuel Kant (hier in einer fiktiven Darstellung als Quantenphysiker) philosophierte bereits scharfsinnig über die Evolution des Universums]]

Als erste evolutionäre Hypothese zur Entstehung des Sonnensystems (bzw. des Universums als Ganzem) kann [[Immanuel Kant]]s Vorstellung gelten, der die Entstehung auf [[Selbstorganisation]] aus einer [[Interstellares Medium|Gas-Staub-Wolke]] zurückführte, die durch die eigene Schwerkraft zu immer kompakteren Einheiten „kondensiert“. Dieser Gedanke kommt den modernen Theorien recht nahe.<ref>Konrad Kreher: ''Evolution im Kosmos.'' In Beck-Sickinger, Petzoldt 2009, S. 136.</ref>

Als Darwins Evolutionstheorie 1859 veröffentlicht wurde, gingen viele [[Astronomie|Astronomen]] bereits seit längerer Zeit von einem evolvierenden Universum aus. Diese Vorstellungen hatten jedoch nichts mit den Mechanismen der biologischen Evolution gemeinsam ''(siehe dazu Abschnitt [[#Universeller Darwinismus|Universeller Darwinismus]]).'' Ganz im Gegenteil sprach das aufgrund der damals bekannten Fakten und theoretischen Überlegungen errechnete Alter des Universums deutlich gegen Darwins Theorie. Dieser Widerspruch löste sich erst im späten 19. Jahrhundert auf, als die Geologie genügend Indizien für eine sehr viel ältere Erde gesammelt hatte.<ref name="Sarasin/Sommer 212–214" />

Spätestens seit den Beobachtungen weit entfernter Galaxien, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht wurden, wird auch von ''kosmischer Evolution'' gesprochen.<ref>[[Harald Lesch]]: ''Was hat das Universum mit uns zu tun?.'' In [[Jochen Oehler]] (Hrsg.: ''Der Mensch - Evolution, Natur und Kultur.'' Springer-Verlag 2010. ISBN 978-3-642-10350-6, S. 1.</ref> Allerdings ist damit nicht immer nur die Entwicklung im Universum bzw. vor der Entstehung des Lebens gemeint, sondern bisweilen auch die Vorstellung einer alles umfassenden [[#Allgemeine Evolutionstheorie|universalen Evolution]].<ref>[[Franz M. Wuketits]]: ''Evolution: Treibende Kräftge in Natur und Kultur.'' In [[Jochen Oehler]] (Hrsg.): ''Der Mensch - Evolution, Natur und Kultur.'' Springer-Verlag 2010. ISBN 978-3-642-10350-6, S. 26.</ref>

[[Albert Einstein|Einstein]], [[Alexander Alexandrowitsch Friedmann|Friedmann]] und [[Georges Lemaître|Lemaître]] ersetzten das [[Paradigma]] des ewig statischen Universums durch eine dynamische Vorstellung, die – wie die biologische Evolution – eine zeitliche Entwicklung durchläuft.<ref name="Sarasin/Sommer 212–214" /> Wie die Entstehung von Galaxien und noch größeren Strukturen oder der ersten Sterngeneration in der Frühzeit des Universums genau ablief, ist allerdings erst in Grundzügen bekannt.<ref name="Kreher">Konrad Kreher: ''Evolution im Kosmos.'' In [[Annette Beck-Sickinger]], [[Matthias Petzoldt]] (Hrsg.): ''Paradigma Evolution. Chancen und Grenzen eines Erklärungsmusters.'' Peter Lang, Frankfurt/M. 2009, ISBN 978-3-631-56082-2, S. 133, 136, 140.</ref>

==== „Anorganischer Darwinismus“ ====
[[Datei:LeeSmolinAtHarvard.JPG|mini|Lee Smolin: Darwinistisch evolvierendes Universum]]

Verschiedene Denker haben versucht, die Mechanismen der biologischen Evolution – trotz fehlender Reproduktion – ''direkt'' auf den gesamten Kosmos zu übertragen. 1874 vertrat der deutsche Philosoph [[Carl du Prel]] in seinem Buch ''Kampf ums Dasein am Himmel – Die Darwin’sche Formel nachgewiesen in der Mechanik der Sternenwelt'' die These, dass jedes System mit einer Entwicklungsgeschichte auch einer natürlichen Selektion unterliegen würde.<ref name="Sarasin/Sommer 212–214" /> Seine Idee war vom [[Buddhismus]] inspiriert, lieferte allerdings keine nachvollziehbaren Erklärungen oder klare Bezüge zu den Evolutionsfaktoren<ref>[[Herman Schell]]: ''Die mystische Philosophie des Buddhismus und die bezüglichen Publikationen aus esoterischen Kreisen.'' In: Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie, Band 1, 1887, [[DOI:10.5169/seals-761814]], S.&nbsp;3, 16–17.</ref> und wird heute dem [[Spiritismus]] zugerechnet.<ref>[[Moritz Baßler]]: ''»Lehnstühle werden verrückt« Spiritismus und empathische Moderne: Zu einer Fußnote bei Wassily Kandinsky.'' Westfälische Wilhelms-Universität-Münster, [https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/germanistik/lehrende/lehrende/bassler_m/lehnst__hlewerdenverr__ckt1993.pdf PDF], abgerufen am 8. März 2024, S.&nbsp;293.</ref>

Der Ausdruck „anorganischer Darwinismus“ stammt von dem britischen Physiker [[William Crookes]], der 1886 mutmaßte, dass die darwinschen Prinzipien auch auf die Entstehung der chemischen Elemente angewendet werden könne.<ref>W. H. Brock: ''Crookes, William'', [https://www.encyclopedia.com/science/dictionaries-thesauruses-pictures-and-press-releases/crookes-william Stichwort auf encyclopedia.com], abgerufen am 31. Januar 2024.</ref>

Ähnliche Ideen äußerten die Astronomen [[Joseph Norman Lockyer]] (''Inorganic Evolution as Studied by Spectrum Analysis,'' 1900) und [[Harlow Shapley]] (''Of stars and men,'' 1958).<ref name="Sarasin/Sommer 212–214" />

Der Physik-Nobelpreisträger [[Gerd Binnig]] spricht 1989 über die Entstehung des dreidimensionalen Raumes und der Naturgesetze als Folge einer universalen Evolution in einem darwinschen Sinne.<ref name="Oehler/Vollmer">[[Gerhard Vollmer]]: ''Menschliches Erkennen in evolutionärer Sicht.'' In [[Jochen Oehler]] (Hrsg.): ''Der Mensch - Evolution, Natur und Kultur.'' Springer-Verlag 2010. ISBN 978-3-642-10350-6, S. 141–142</ref>

===== Kosmische Selektion nach Smolin =====
Im Gegensatz zu den eher „bildhaften Annäherungen“ der vorgenannten Denker unternahm der theoretische Physiker [[Lee Smolin]] 1997 mit der [[Lee Smolin#Kosmologische Vererbung|Hypothese der „Kosmischen natürlichen Selektion“]] einen umfassenden Versuch, die Darwinschen Prinzipien auf die Entstehung des Kosmos anzuwenden. Kritiker wenden jedoch ein, dass Smolins Ideen den bekannten astronomischen Tatsachen widersprechen und dass evolutionäre Prozesse aufgrund ihrer Unvorhersagbarkeit nicht mit mathematische Gleichungen erklärbar gemacht werden können.<ref>Ulf von Rauchhaupt: ''Astronomie und Kosmologie.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;216–218.</ref>

===== Quantendarwinismus nach Zurek =====
[[Datei:Ultracold Molecules (5940517683).jpg|mini|Sichtbar gemachte Quantendichte eines ultrakalten Gases mit einem stabilen „Peak“ im instabilen „Quantenrauschen“.<ref>Diese Grafik entspricht den beiden Abbildungen in Michael Harder: ''Die verborgenen Spielregeln des Universums: Wie die Welt wirklich funktioniert'' auf Seite 91</ref> Nach der Hypothese des ''[[Quantendarwinismus]]'' werden manche Quantenzustände von der Umgebung bevorzugt ''ausgelesen''.]]

Als viel versprechender Ansatz für eine Synthese von Mikrophysik und Evolution findet seit 2008 der [[Quantendarwinismus]] nach [[Wojciech Zurek]] und seinem Team große Beachtung, nachdem es am Institut für Physik der [[Montanuniversität Leoben]] zusammen mit Kollegen der [[Arizona State University]] gelungen ist, die Vorhersagen der Hypothese experimentell zu bestätigen. Dieses Ergebnis wird international als Nachweis gewertet, dass dieser Mechanismus tatsächlich existiert.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.scinexx.de/news/technik/auch-quantenpunkte-haben-ein-beziehungsleben/ |titel=Forscher finden wichtige Indizien für Quantendarwinismus Auch Quantenpunkte haben ein Beziehungsleben - scinexx {{!}} Das Wissensmagazin |abruf=2019-06-22}}</ref>

Nach der [[Quantentheorie]] müssten die instabilen, [[Wellenfunktion|wellenartigen]] [[Zustand (Quantenmechanik)| Quantenzustände]] alle gleichrangig sein. Zurek stellte jedoch bereits in den 1980er Jahren mit Hilfe der Messung so genannter ''Pointerzustände'' (''pointer states'': nach einem speziellen Verfahren gemessene stabile Zustände nach dem Übergang vom [[Welle-Teilchen-Dualismus|Wellen- zum Teilchenstadium]]) fest, das manche Zustände häufiger auftreten als andere. Er postulierte daher einen Selektionsmechanismus – „''e''nvironment-''in''duced super''selection''“ genannt – der von den stabilen Strukturen ausgehend die am besten angepassten Quantenzustände stabilisiert, während andere Zustände wieder verschwinden. Betrachtet man zusätzlich den großen Variantenreichtum der möglichen Zustände im permanenten „Rauschen des [[Quantenschaum]]es“ und das Phänomen der [[Quantenverschränkung]], durch das die selektierten Zustände an andere, freie Quanten weitergegeben – quasi „vererbt“ – werden, sind alle drei darwinschen Module vorhanden, sodass hier mit Recht von einer physikalischen Evolution gesprochen werden kann.<ref>[[Florian Aigner (Publizist)|Florian Aigner]]: ''Warum wir nicht durch Wände gehen''. Brandstätter, Wien 2023, ISBN 978-3-7106-0689-2, S.&nbsp; 203–208.</ref>

=== Universelle Evolution ===
[[Datei:Portrait of Herbert Spencer (1820-1903), Physicist and Biologist (2552868551).jpg|mini|Herbert Spencer: Erweiterung der darwinschen Evolution bis zur „Evolution von allem“]]

Der universale Evolutionsbegriff ''(häufig auch – irreführend – [[#Allgemeine Evolutionstheorie|allgemeine Evolution]] genannt)'' geht von der Annahme grundlegender Gesetzmäßigkeiten im Universum aus, die alle [[Sein]]sebenen umfassen und zu einer kontinuierlichen Entwicklungsgeschichte führen: Vom Urknall aus hätte sich Materie zunächst in physikalischen, dann in chemischen, schließlich biologischen, kulturellen, psychologischen (etc.) „Emergenzebenen“ entfaltet, die jeweils miteinander wechselwirken.<ref name="Blume" /> Anhänger dieser Idee haben meistens einen weit gefassten Evolutionsbegriff (Prozess einer selbstorganisierenden, nicht vorhersehbaren Entwicklung tendenziell komplexerer Strukturen). In diesem Fall findet die Vereinheitlichung nur auf sprachlicher Ebene (Metapher, Analogie u.ä.) statt, da kein allumfassender Wirkmechanismus formuliert wird. Häufig wird versucht, verschiedene Mechanismen per Definition zu verbinden. Eine tatsächliche ''Universelle Evolutionstheorie'' im engen Sinne wäre ein ''universeller Darwinismus'', der den Nachweis erbringen müsste, dass sich aus den drei darwinschen Mechanismen (Variation, Selektion, Replikation) ein übergreifendes Wirkungsprinzip herleiten ließe.

Als wichtige Inspirationsquelle für viele Überlegungen zu einer universellen Evolution wird häufig der Sozialphilosoph [[Herbert Spencer]] genannt, der in den 1860er Jahren Darwins Evolutionstheorie nicht nur auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften bezog, sondern darin ebenfalls ein universelles Prinzip allen Werdens im Universum sah. Spencer definierte Evolution als ''Tendenz einer Entwicklung von einer unbestimmten Homogenität unverbundener Einzelteile zu einer bestimmten, immer mehr verbundenen Heterogenität, die mit der Verringerung von Bewegung und der Integration von Materie einhergeht.'' Dafür nahm er einen pulsierenden Wechsel von Auflösung ''(Dissolution)'' und Neubildung ''(Evolution)'' an, der durch die Kräfte von Anziehung und Abstoßung erzeugt würde. Diese wiederum treten in zwei Formen auf: Materie und Bewegung. Insofern war Evolution für ihn der zunehmende Aufbau geordneter materieller Strukturen bzw. Zusammenhänge bei gleichzeitiger Abnahme ungeordneter Bewegungen (thermischer Energie), der von der einfachen Einheit zu komplexer Vielheit führe. Dabei nahm er eine fortschrittliche „Höherentwicklung“ der Dinge (im Sinne des ''[[Evolutionismus]]'') an. Spencers Überlegungen beruhen lediglich auf biologischen Befunden, die er zu einer spekulativen philosophischen Theorie erweiterte,<ref>[[Kristian Köchy]]: ''Die Idee der Evolution in der Philosophie Herbert Spencers.'' In Asmuth/Poser 2007, S. 58–78.</ref> die bei näherer Betrachtung sehr unscharf formuliert ist.<ref>Richard H. Beyler: ''Physik.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;289–290.</ref>

==== Metaphern, Analogien und nicht-darwinsche Hypothesen ====
[[Datei:Ie-boom de.svg|mini|Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen: Folge einer ''Sprachevolution'']]

{{Zitat
|Ist etwa alles in Evolution? Auch der Kosmos als Ganzes, auch die sogenannten Naturkonstanten, vielleicht sogar die Naturgesetze, etwa die Evolutionsgesetze, und am Ende auch noch die Wahrheit?
|[[Gerhard Vollmer]]: ''Im Lichte der Evolution. Darwin in Wissenschaft und Philosophie'' (2016)}}

Wird der Evolutionsbegriff im Sinne einer Metapher oder Analogie verwendet – ohne die darwinschen Regeln für allgemeingültig zu erklären – und die [[Naturgeschichte|Geschichte der Natur]] und der [[Menschheitsgeschichte|Menschheit]] als Abfolge von [[Zeitalter|Epochen]] behandelt, ist der Gedankenschritt zu einer universellen Evolution [[Trivialität|trivial]]. In diesem Fall muss lediglich zwischen natürlichen Systemen – die evolvieren – und [[Physikalische Konstante|Naturkonstante]]n und -gesetzen unterschieden werden – die ''nicht'' evolvieren.<ref>Vollmer 2016, S. 26, 36.</ref> In der Folge können entweder unterschiedliche ''Evolutionsphasen'' mit jeweils eigenen Wirkungsmechanismen aneinandergereiht werden (kosmisch, astrophysikalisch, chemisch, biologisch, psychisch, kulturell, wissenschaftlich, technisch u.a.) oder man versucht, gemeinsame Prinzipien zu finden, die es ermöglichen, die einzelnen Evolutionsphasen als logische Abfolge darzustellen.<ref>Vollmer 2016, S. 27–28.</ref>

Die meisten Autoren gehen von einem hierarchischen Aufbau der Evolutionsprozesse aus: Das heißt, die Eigenschaften und Strukturen der kosmischen Evolution bilden die Rahmenbedingungen für die biologische Evolution und diese wiederum für die kulturellen Schritte – nicht jedoch umgekehrt ''(Veranschaulichung siehe Grafik in der Einleitung)''.<ref name="Saner" /> Reproduktion und Auslese beispielsweise finden demnach sowohl in der Biologie als auch in der [[Sprachentwicklung|Sprachevolution]] und der [[Wissenschaftsgeschichte|Evolution wissenschaftlicher Modelle]] statt, während sie bei den kosmischen Evolutionsprozessen im Universum noch nicht existierten. Durchgehend gelten die Prinzipien der Selbsterschaffung, -erhaltung und -organisation, der nicht umkehrbaren und nicht wiederholbaren Ereignisse sowie der Zweckdienlichkeit und einer langfristig erkennbaren Komplexitätszunahme.

[[Datei:The Vision of Teilhard-de-Chardin.png|mini|Universelle Evolution durch Gottes Einfluss nach Teilhard]]
Weitreichende philosophische Überlegungen zu einer universellen Evolution stellte der Jesuitenpater [[Teilhard de Chardin]] in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Als Vertreter der christlichen Religion gehört sein Entwurf zum [[#Theistischer Naturalismus|Theistischen Naturalismus]], da er Gott – von ihm als ''Punkt Omega'' bezeichnet – als erste Ursache und Triebfeder der Evolution sah und damit auch eine gezielte Höherentwicklung begründet. Darüber hinaus war für ihn alles einer sprunghaften Evolution unterworfen, die auf materieller Ebene zu einer Zunahme an Komplexität und auf geistiger Seite an „Zentriertheit“ führen würde.<ref>Vera Haag (Autorin), Hans Geser (Hrsg.): ''Pierre Teilhard de Chardin: Visionär oder Evolutionsmystiker.'' Soziologisches Institut der [[Universität Zürich]], Online Publications, Sociology of Religion, [https://socio.ch/relsoc/t_vhaag.html#i online] abgerufen am 18. März 2024.</ref>

Vollmer zählt (neben den hier im Text erwähnten) u.a. folgende bekannte Autoren und Werke mit einem universalen Bezug des Evolutionsbegriffes auf:<ref name="Oehler/Vollmer" /><ref>Vollmer 2016, S. 32, 36.</ref>
* [[Ilya Prigogine]]: ''Introduction to Thermodynamics of Irreversible Processes.'' (1955)
* [[Melvin Calvin]]: ''Chemical evolution: molecular evolution towards the origin of living systems on the earth and elsewhere.'' (1969)
* [[Hoimar von Ditfurth]]: ''Im Anfang war der Wasserstoff'' (1972)
* [[Rupert Riedl]]: ''Die Strategie der Genesis. Naturgeschichte der realen Welt'' (1976)
* [[Bernhard Rensch]]: ''Das universale Weltbild. Evolution und Naturphilosophie'' (1977)
* [[Erich Jantsch]]: ''Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist'' (1979)
* [[Albrecht Unsöld]]: ''Evolution kosmischer, biologischer und geistiger Strukturen'' (1981)
* [[Peter Aichelburg]], Reinhard Kögerler (Hrsg.): ''Evolution'' (1986)
* [[John Gribbin]]: ''Die erste Genesis: Gott, die Zeit und der Urknall'' (1986)
* [[Ervin László]]: ''Evolution - Die neue Synthese: Wege in die Zukunft'' (1987)
* [[Sievert Lorenzen]]: ''arwin und die Theorie der Evolution'' (1988)
* [[Alan Grafen]]: ''Evolution and Its Influence (Herbert Spencer Lecture)'' (1989)
* [[Günther Patzig]]: ''Der Evolutionsgedanke in den Wissenschaften'' (1991)
* [[Bill Bryson]]: ''Eine kurze Geschichte von fast allem'' (2003)
* [[Axel Meyer (Biologe)|Axel Meyer]]: ''Evolution ist überall'' (2008)
* [[Philipp Sarasin]], [[Marianne Sommer (Kulturwissenschaftlerin)|Marianne Sommer]] (Hrsg.): ''Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch'' (2010)
* [[Gerhard Schurz]]: ''Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie'' (2011)

Spätestens seit der Formulierung des ''Quantendarwinismus'' existieren für alle Evolutionsphasen etablierte Theorien oder zumindest anerkannte Hypothesen, sodass die von vielen erwartete, befriedigende ''Universale Evolutionstheorie'' nur aufgrund der fehlenden ''Einheit der Wissenschaften'' (im Sinne einer [[Ganzheitlichkeit|ganzheitlichen]] Transdisziplinarität) noch nicht vorgelegt wurde.<ref name="Saner" /><ref>Vollmer 2016, S. 22, 35.</ref>

==== Universeller Darwinismus ====
Die Bezeichnung [[Universeller Darwinismus]] ''(Universal Darwinism)'' stammt von dem sehr populären Evolutionsbiologen [[Richard Dawkins]], der damit allerdings nur die Vereinheitlichung von biologischer und kultureller Evolution meinte (Dawkins führte das kulturelle ''Mem'' analos zum ''Gen'' ein, siehe Kapitel [[#Soziokulturelle Evolution|Soziokulturelle Evolution]]). Einige andere Autoren übernahmen den Begriff und erweiterten ihn auf sämtliche Daseinsebenen. Diese Ansätze werden bisweilen ''methodologischer Evolutionismus'' genannt.<ref>Vollmer 2016, S. 36.</ref>

Auch der Philosoph [[Daniel Dennett]] – ein Unterstützer der Mem-Theorie – griff Dawkins Vorschlag auf und erweiterte in seinem Buch ''Darwins gefährliches Erbe'' (1995) den Evolutionsbegriff über die Biologie hinaus, indem er die drei [[Charles Darwin|darwinschen]] Mechanismen ''Variation'', ''Selektion'' und ''Replikation'' als allgemeinen [[Algorithmus]] bezeichnet, der auch außerhalb des Lebendigen überall wirken kann. Damit verweist er auf eine Verallgemeinerung der Theorie, die er allerdings selbst nicht weiter ausführt.<ref>Vollmer 2016, S.&nbsp;45–46.</ref>

Mit gewissen Modifikationen kann der Evolutionsbegriff von Luhmann als Versuch eines universellen Darwinismus betrachtet werden.

===== Evolutionsbegriff nach Luhmann =====
[[Datei:Systems by Luhmann.png|mini|hochkant=1.7|„Stammbaum“ der Systeme nach Luhmann]]

1984 definierte der deutsche Soziologe [[Niklas Luhmann]] den Begriff der Evolution im Rahmen [[Systemtheorie (Luhmann)|seiner soziologischen Systemtheorie]], verallgemeinerte ihn jedoch – ganz im Sinne des „[[Systemdenken (Systemtheorie)|Systemdenkens]]“ – auf ''alle'' offenen, selbstorganisierenden Systeme. Kurz gefasst war Evolution für Luhmann die kontinuierliche Umwandlung wenig wahrscheinlicher Zufälle in neue Strukturen, die der hoch wahrscheinlichen Erhaltung eines Systems dienen. Auch Luhmann nennt drei Mechanismen, die jedoch deutlich von Darwins Vorgaben abweichen:<ref name="Maaß">Olaf Maaß: ''Die Soziale Arbeit als Funktionssystem der Gesellschaft? – Eine systemtheoretische Analyse.'' Dissertation, Hamburg 2007, [https://d-nb.info/986319899/34 PDF], abgerufen am 23. Januar 2024, S.&nbsp;177–180.</ref>

* ''Variation'' (zufällig entstehende Abweichungen bei der Selbsterhaltung der Elemente eines Systems),
* ''Selektion'' („Bewertung“ der Abweichungen nach ihrem Nutzen für die Strukturbildung: Einbau, Duldung oder Ablehnung) und
* ''Retention/Stabilisierung'' (Erhaltung des neuen Systemzustandes).

Vor allem hob er die völlige Richtungs- und Ziellosigkeit evolutionärer Veränderungen als zentrales Merkmal hervor.<ref>Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;128 (Georg Toepfer: ''Generelle Evolutionstheorie.''), 234 ([[Christian Geulen]]: ''Geschichtswissenschaft''), 362 ([[Jakob Tanner (Historiker)|Jakob Tanner]]: ''Politik.'').</ref> Dies drückt sich etwa darin aus, dass er im Gegensatz zur klassischen Evolutionstheorie keinen „Zwang zur Anpassung“ sieht, sondern lediglich „Irritationen“ des Systems, auf die es in angemessener Weise reagieren ''kann,'' aber nicht muss. Demnach kann man nicht wissen, ob Variation zu positiver oder negativer Selektion der Neuerung führt und ebenso wenig, ob die Restabilisierung des Systems nach der positiven bzw. negativen Selektion gelingt oder nicht.<ref name="Kradolfer" /> Evolution ist somit kein ''notwendiger [[Prozess]]'' wie nach der biologischen Definition, der kontinuierlich und unumkehrbar zu komplexeren Strukturen führt. Kontinuität, Unumkehrbarkeit und Komplexitätsgewinn sind jedoch die Basis anderer (weit gefasster) Definitionen von Evolution, von denen sich Luhmann hier weit entfernt hat.<ref name="Maaß" />

Evolution wird schließlich als universelles Funktionsprinzip betrachtet, bei dem ebenfalls die drei Komponenten selbst veränderlich sind,<ref name="Maaß" /> sodass auch eine „Evolution der Evolution“ möglich ist.<ref>Malte Lierl: ''Systemtheoretischer Evolutionsbegriff in Geschichte und Ökonomie.'' Dresden 2004, [https://tud.qucosa.de/api/qucosa%3A24664/attachment/ATT-0/ PDF], abgerufen am 23. Januar 2024, S.&nbsp;4–5.</ref>

Luhmanns Systemtheorie wurde vielfach rezipiert und seine Begriffsdefinitionen haben auch Eingang in anderen Fachgebieten gefunden.<ref>Ziemann, Benjamin (2007). "The Theory of Functional Differentiation and the History of Modern Society. Reflections on the Reception of Systems Theory in Recent Historiography". ''Soziale System,'' 13 (1+2). pp. 220–229.</ref> Gerhard Vollmer mahnt allerdings zur Vorsicht, Luhmanns Entwurf nicht als „alternative Evolutionstheorie“ zu behandeln, denn Luhmann habe weder die biologische Evolution nachvollziehbar integriert noch die Übertragung von der soziokulturellen Evolution auf einen allgemeinen Evolutionsbegriff ausreichend begründet.<ref>Vollmer 2016, S.&nbsp;42.</ref>

== Weltanschauliche Begründungen ==
[[Datei:Evolution of household articles, animals etc Wellcome L0064391.jpg|mini|Satirische Darstellung der Evolution: Von der Mücke zum Elefanten]]

Die [[Weltanschauung|weltanschaulich]]e und [[kultur]]elle Prägung eines Menschen beeinflusst mehr oder weniger ausgeprägt, bewusst oder unbewusst die [[Abstraktion|Begriffsbildung]] und die [[Kategorisierung (Kognitionswissenschaft)|Einordnung]] von Begriffen in das persönliche Weltbild eines Menschen. Obgleich moderne Wissenschaftler geschult werden, möglichst [[Objektivität|objektiv]] und neutral zu formulieren, stehen auch dahinter [[subjektiv]] denkende Persönlichkeiten. Wie die [[Geschichte der Evolutionstheorie|Theoriegeschichte]] zeigt, hat kaum ein naturwissenschaftlicher [[Begriff]] so viele Kontroversen in Wissenschaft und Gesellschaft ausgelöst wie der Begriff der Evolution; berührt er doch alle Grundfragen menschlicher Existenz. Entstand alles „rein zufällig“ oder war es doch das Werk einer „übernatürlichen Intelligenz“?

In den westlichen Ländern überwiegt der Glaube an die Evolution. Evolutionäre Atheisten wie kreationistische Religiöse gehen trotz gegensätzlicher Positionen davon aus, dass sich die Zustimmung zur Evolutionstheorie und der Glauben an eine wirkende Gottheit grundsätzlich ausschlössen. Evolutionäre Pessimisten glauben, dass der Evolutionsprozess letztlich sinn- und ziellos sei und sich am Ende mit dem Erlöschen des Universums unabwendbar wieder erledigen werde. Evolutionäre Optimisten meinen dagegen einen – wenn auch immer wieder gefährdeten und unterbrochenen – Fortschritt im Evolutionsprozess zu erkennen. Evolutionäre Agnostiker betonen schließlich, dass Evolutionsforschung immer nur empirisch und historisch sei – letztentscheidende Aussagen über die Zukunft, Gottes Existenz o.ä. seien daher überhaupt nicht möglich.<ref name="Blume" />

Die meisten Wissenschaftler und Philosophen gehen bei der biologischen Evolutionstheorie von einer „[[Empirische Evidenz|hohen Evidenz]]“ der beschriebenen Mechanismen aus. Dennoch kann diese Bewertung auf ganz unterschiedlichen weltanschaulich-philosophischen Vorstellungen beruhen. Die Unterschiede werden in der Regel erst offensichtlich, wenn es um die Einbindung der Theorie in übergeordnete Denkmodelle geht.

=== Materialismus ===
[[Materialismus|Materialistische]] Positionen beziehen soweit wie möglich alles auf die untersuchbare „natürliche“ [[Materie]] und die damit verbundenen [[naturgesetz]]lichen Vorgänge.

==== „Strenger Physikalismus“ ====
[[Datei:Homology.jpg|mini|Evolution ist Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen durch hocheffiziente Selbstorganisation mit einem „Quäntchen Zufall“ – dessen Rolle von Laien und Gegnern der Evolutionstheorie häufig viel zu hoch eingeschätzt wird]]

Werden die [[ontologisch]]en Fragen (z.&nbsp;B. nach Grund und Sinn der Evolution) und die nicht mehr naturwissenschaftlich untersuchbaren Phänomene der [[Evolution#Evolution des Geistes|Evolution des Geistes]] ausgenommen, beruhen die modernen, auf Darwins Lehre aufbauenden Evolutionstheorien auf einem strengen ''[[Physikalismus (Ontologie)|physikalistischen]] Materialismus.'' Nach diesem herrschenden [[Paradigma]] in den Naturwissenschaften gelten grundsätzlich ''alle'' Phänomene der [[Natur]] als beschreibbare Folgen naturgesetzlicher Vorgänge, die weder göttlicher Mächte noch geistige Eigenschaften der Welt benötigen, um selbstorganisiert abzulaufen.<ref name="Hampe 2">[[Michael Hampe (Philosoph)|Michael Hampe]]: ''Philosophie.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;282–283.</ref> Seit der Anerkennung der [[Quantenmechanik]] wird mehrheitlich die Existenz nicht vorherberechenbarer „[[Heisenbergsche Unschärferelation|unscharfer]]“ Zustände angenommen, sodass hier hinreichende Gründe gegen eine mechanisch [[Determiniertheit (Algorithmus)|determinierte]] Entwicklung der makrophysikalischen Welt sprechen<ref name="Beyler">Richard H. Beyler: ''Physik.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;291 (Quantenmechanik), 293 (Mayr).</ref> (wie sie noch aus dem [[Naturtheorie#Vom „göttlichen Uhrmacher“ zur Selbstbewegung der Materie|Newtonschen Paradigma]] hergeleitet wurde).

Von den Gegnern der Evolutionstheorie wird häufig bezweifelt, dass die enorme Komplexität der Welt auf „einzelne zufällige Ereignisse“ zurückgehen kann. Dabei wird – unabsichtlich oder bewusst – dem [[Zufall]] im Evolutionsgeschehen eine viel zu große Bedeutung beigemessen. Noch bis zu [[Stephen Jay Gould]] gab es auch in der Biologie noch eine fast [[klischee]]hafte Trennung zwischen ''Zufall'' und ''Notwendigkeit''.<ref name="Gilberti">Walter Gilberti: ''Zum Tode des Paläontologen Stephen J. Gould.'', Artikel auf wsws.org vom 12. Juli 2002,[https://www.wsws.org/de/articles/2002/07/goul-j12.html online] abgerufen am 5. März 2024.</ref> Es ist jedoch wichtig, zu differenzieren, was genau mit Zufall gemeint ist: So handelt es sich etwa bei zufälligen Mutationen, die zu positiven Veränderungen führen, niemals um ein ''Einzelereignis'' im individuellen Sinne, sondern immer um die gleiche Veränderung bei einer größeren Anzahl von Individuen einer Population.<ref name="Brigandt">Ingo Brigandt: ''Kreationismus und Intelligent Design.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;350–357.</ref> Hinzu kommt eine Vielzahl an [[systemimmanent]]en Regelkreisen und Mechanismen, die die Auswirkungen solcher Ereignisse automatisch „kanalisieren“.<ref name="Gilberti" /> Es ist demnach – auch ohne die Annahme göttlichen Eingriffs – vollkommen unangemessen, die hochkomplexe evolutionäre [[Selbstorganisation]] des Existenten für zufällig und vollkommen undeterminiert zu halten.

Allerdings weisen etliche Biologen – allen voran [[Ernst Mayr]] – darauf hin, dass Prozesse des Lebens oder der Evolution nicht auf die Gesetze der (physikalischen) [[Thermodynamik]] reduziert werden könnten, sondern überdies unabhängigen, originär biologischen Mechanismen unterlägen.<ref>Richard H. Beyler: ''Physik.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;291 (Quantenmechanik), 293 (Mayr).</ref>

==== „Weicher Physikalismus“ ====
Diese Annahme, dass jede Seinsebene (als Gegenstandsbereiche der Physik, Chemie, Biologie, Psychologie) Eigenschaften hervorbringt, die sich nicht allein mit den Mechanismen tieferer Ebenen erklären lassen, ist insbesondere in der [[Philosophie des Geistes]] anzutreffen, dessen immaterielle und naturgesetzlich nicht mehr erklärbaren Erscheinungsformen neue Erklärungsversuche notwendig machen. Jeder Autor, der akzeptiert werden will, sollte in irgendeiner Form eine – zumindest „weiche“ – Vereinbarkeit mit den physikalistischen Ansätzen herstellen. In Bezug auf die Evolution des Geistes gehen die meisten Hypothesen heute von einem [[Eigenschaftsdualismus]] aus, bei dem das Geistige als andersartige, aber dennoch abhängige Eigenschaft des Körperlichen betrachtet wird.<ref name="Hampe">[[Michael Hampe (Philosoph)|Michael Hampe]]: ''Philosophie.'' In: Sarasin/Sommer 2010, S.&nbsp;273–284.</ref><ref>Samuel R. Nüesch: Die Leib-Seele Debatte: Eine Übersicht der wichtigsten Positionen. Arbeitspapiere aus der IKAÖ, Nr. 1, Universität Bern, September 2008, [www.ikaoe.unibe.ch/publikationen/arbeitspapier_01.pdf PDF], abgerufen am 22. Februar 2024, S.&nbsp;5, 16–18.</ref>

Auch wenn die große Mehrheit der gegenwärtigen Wissenschaftler und Philosophen davon ausgeht, dass selbst die Entstehung der menschlichen [[Psyche]] (aus einfacheren Vorläufern) eine Folge der biologischen Evolution ist, so existiert aufgrund ihrer [[Geist#Prinzipielle Unbeweisbarkeit|prinzipiellen Unbeweisbarkeit]] keine allgemein anerkannte Hypothese.

===== ''Nicht-reduktiver Physikalismus'' =====
Die gängigste Erklärung für die evolutionäre Entstehung von Geist wird als ''nicht-reduktiver Physikalimsus'' (oder ''Moderner Emergentismus'') bezeichnet: Die Vertreter solcher Theorien gehen davon aus, dass Geist irgendwann als ''[[Emergenz|emergentes]] Phänomen'' biochemischer Prozesse ab einem bestimmten Komplexitätsgrad vernetzter Zellen spontan aufgetaucht sei.<ref name="Hampe" /> Sie setzen voraus, dass einige Eigenschaften nicht auf physische Eigenschaften reduzierbar sind ''([[Reduktionismus|Nicht-Reduktivität]])'', der Physikalismus jedoch trotzdem wahr ist (Man rechnet mit einer späteren Erklärung dieser Beziehung). Wichtige Vertreter dieser Position sind etwa [[Daniel Dennett]] ''(siehe auch Kapitel [[#Universeller Darwinismus]])'' und [[Arno Ros]].

===== ''Panpsychismus'' =====
Kritiker verweisen darauf, dass die extreme Andersartigkeit des Geistigen eine „starke Emergenz“ (gänzlich unvorhersehbare, neue Eigenschaft) voraussetzen würde,<ref name="Spät" /> was einem [[Wunder]] gleichkäme.<ref>Heinrich Päs: ''Gibt es den freien Willen? Und: Was ist Realität?'' Beitrag auf Spektrum.de SciLogs vom 16. Januar 2018, [https://scilogs.spektrum.de/das-zauberwort/gibt-es-den-freien-willen-und-was-ist-realitaet/ online] abgerufen am 29. Februar 2024.</ref><ref>Robert Prentner: ''Die Entstehung der Objekte. Überlegungen zu einer exakten Wissenschaft von Bewusstsein.'' Dissertation ETH Zürich, Nr. 24329, 2017, [https://www.research-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/186325/Dissertation_e-collection.pdf?sequence=1&isAllowed=y PDF], abgerufen am 29. Februar 2024, S.&nbsp;51.</ref>

Bereits [[Ernst Haeckel]]<ref name="Hampe" /> oder [[Bernhard Rensch]], aber auch Philosophen wie [[Alfred North Whitehead]] oder aktuell [[Patrick Spät]] vertreten hingegen [[Panpsychismus|panpsychistische]] Positionen, denen die Annahme gemeinsam ist, dass ''Geist'' – im Sinne einer „immateriellen Innerlichkeit, Fähigkeit oder Kraft“ – von Anfang an in jeglicher Materie vorhanden ist.<ref name="Spät" /> Die Annahme zweier gegenseitig voneinander abhängiger Eigenschaften der Materie (physikalisch und psychisch) widerspricht dem Physikalismus allerdings fundamental. Würde diese Erklärung dennoch zutreffen, müsste der Evolutionsbegriff deutlich angepasst werden: Panpsychisten sehen bereits in der körperlichen Evolution eine wichtige Rolle des „geistigen Prinzips“ als Entscheider und Treiber.<ref name="Spät" />

===== ''Theistischer Naturalismus'' =====
[[Datei:Evolution 1.jpg|mini|Wie lassen sich Religion und Evolution miteinander verbinden?]]
{{Zitat
|Gott macht, dass die Dinge sich machen.
|Pierre Teilhard de Chardin<ref>Anna Beniermann: ''Evolution – von Akzeptanz und Zweifeln: Empirische Studien über Einstellungen zu Evolution und Bewusstsein.'' Dissertation, Springer Spektrum, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-658-24104-9, S.&nbsp;48.</ref>}}

Auch der katholische Anthropologe und Philosoph [[Pierre Teilhard de Chardin]] vertrat einen Panpsychismus, verbunden mit der Vorstellung einer von Gott angestoßenen, zielgerichteten Evolution. Solche Weltanschauungen, die die metaphysischen Ursachen der Evolution nicht aussparen, sondern auf Gott verweisen, darüber hinaus aber alle Evolutionsmechanismen akzeptieren, werden als [[Theistische Evolution]] bezeichnet. Bedeutende Vertreter waren neben Teilhard [[Theodosius Dobzhansky]], [[Otto Kleinschmidt]] und [[Albert Wigand (Botaniker)|Albert Wigand]].

=== Kreationismus ===
Anders als theistische Evolutionisten beziehen sich Anhänger [[Kreationismus|kreationistischer Vorstellungen]] in erster Linie auf die [[Schöpfung]]smythen ihrer Religion (zumeist [[christlich]], [[islamisch]] oder [[hinduistisch]]) und lehnen die Evolutionstheorie – wie auch die Trennung von Naturwissenschaft und Religion – mehr oder weniger ab. Sofern eine Evolution anerkannt wird, ist sie Teil eines „göttlichen Entwicklungsplans“ und beginnt mit nicht verwandten, von Gott geschaffenen Grundtypen der Lebewesen.<ref name="Brigandt" /> Der wissenschaftliche Evolutionsbegriff wird hier [[ad absurdum]] geführt.

==== Intelligent Design ====
In den [[Vereinigte Staaten|Vereinigten Staaten]] hat sich die christlich-[[Evangelikalismus|evangelikale Bewegung]] seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer starken politischen Kraft entwickelt. Damit verbunden sind Forderungen, die Schöpfungsgeschichte als Alternative zur Evolutionstheorie zu betrachten. Als diese Bestrebungen auf Widerstand trafen (etwa durch Bezug auf die amerikanische Verfassung), entstand in den 1980er Jahren die Lehre ''[[Intelligent Design]].'' Hier wird der direkte Bezug auf christliche Begriffe weitestgehend vermieden und es wird der Anschein erweckt, dass es sich um einen wissenschaftlich fundierten Gegenentwurf zur Evolutionstheorie handele. Auf diese Weise versuchen die Vertreter dieser Lehre, von den staatlichen Bildungseinrichtungen als gleichwertige Theorie wahrgenommen zu werden. Der Begriff der Evolution wird erheblich aufgeweicht und anstelle der Selbstorganisation – die vor allem mit Hilfe [[Wahrscheinlichkeitstheorie|wahrscheinlichkeitstheoretischer]] Argumente abgelehnt wird – tritt eine übernatürliche Intelligenz bzw. ein „intelligenter Designer“ (der nicht näher benannt wird). Naturwissenschaftler halten diese Lehre für [[pseudowissenschaft]]lich: Die Ausgangsbedingungen der Berechnungen messen dem „Faktor Zufall“ eine viel zu hohe Bedeutung bei; extrem unwahrscheinliche Ereignisse werden für unmöglich gehalten, obwohl sie regelmäßig zu beobachten sind; und es werden ausschließlich gedankliche Argumente gegen die Evolutionstheorie geliefert, ohne sie empirisch zu überprüfen oder eine alternative Theorie zu liefern.<ref name="Brigandt" />


== Literatur ==
== Literatur ==
* Klaus Dose: ''Chemische Evolution und der Ursprung lebender Systeme''. In: W. Hoppe, W. Lohmann, H. Markl, H. Ziegler (Herausgeber): ''Biophysik''. Springer-Verlag, Heidelberg, ISBN 3-540-11335-5.
* [[Gerhard Vollmer]]: ''Im Lichte der Evolution. Darwin in Wissenschaft und Philosophie.'' S. Hirzel, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-7776-2617-8. (Vorschau des Buches bis S.&nbsp;61 als [https://api.pageplace.de/preview/DT0400.9783777626369_A28754366/preview-9783777626369_A28754366.pdf PDF])
* Werner Ebeling: ''Physik der Evolutionsprozesse''. Akademie-Verlag, Berlin, ISBN 3-05-500622-4.
* [[Gerhard Schurz]]: ''Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie.'' Spektrum, Heidelberg 2011, [[doi:10.1007/978-3-8274-2666-6_1]], ISBN 978-3-8274-2665-9.
* Sven P. Thoms: ''Ursprung des Lebens''. Frankfurt 2005.
* [[Philipp Sarasin]], [[Marianne Sommer (Kulturwissenschaftlerin)|Marianne Sommer]] (Hrsg.): ''Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch''. J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2010, ISBN 978-3-476-02274-5.
* [[Annette Beck-Sickinger]], [[Matthias Petzoldt]] (Hrsg.): ''Paradigma Evolution. Chancen und Grenzen eines Erklärungsmusters.'' Peter Lang, Frankfurt/M. 2009, ISBN 978-3-631-56082-2.
* [[Christoph Asmuth]], [[Hans Poser (Philosoph)|Hans Poser]] (Hrsg.): ''Evolution. Modell - Methode - Paradigma-'' Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3579-1.


== Einzelnachweise ==
== Weblinks ==
<references responsive/>


== Weblinks ==
{{Wikiquote|Evolution}}
{{Wikiquote|Evolution}}
{{Wiktionary|Evolution}}
{{Wiktionary|Evolution}}
Zeile 306:Zeile 105:
* Sarah Scoles: [https://www.spektrum.de/news/astrobiologie-leben-auf-anderen-welten/2157261 Leben auf anderen Welten]. Auf: [[spektrum.de]] vom 9. Juli 2023, aktualisiert am 31. Juli 2023.
* Sarah Scoles: [https://www.spektrum.de/news/astrobiologie-leben-auf-anderen-welten/2157261 Leben auf anderen Welten]. Auf: [[spektrum.de]] vom 9. Juli 2023, aktualisiert am 31. Juli 2023.


[[Kategorie:Evolution]]
[[Kategorie:Evolution| Systemtheorie]]
[[Kategorie:Biopsychologie]]
[[Kategorie:Philosophische Anthropologie]]
[[Kategorie:Sozialer Prozess]]
[[Kategorie:Systemtheorie]]

Version vom 20. März 2024, 19:21 Uhr

Evolution (vom lateinischen evolvere = abwickeln, entwickeln; PPP evolutum) ist in der Systemtheorie ein Prozess, bei dem durch Reproduktion oder Replikation von einem System Kopien hergestellt werden, die sich voneinander und von ihrem Ursprungssystem durch Variation unterscheiden und bei dem nur ein Teil dieser Kopien auf Grund von Selektion für einen weiteren Kopiervorgang zugelassen werden.

Evolution im Allgemeinen

Voraussetzungen der Evolution

Die Evolution ist an drei notwendige Voraussetzungen gebunden:

  1. Das Vorhandensein von Replikatoren,
  2. eine schwankende Kopiergenauigkeit, Variation genannt, sowie
  3. eine unterschiedliche Wahrscheinlichkeit einer jeden Variante, als Element in jene Stichprobe zu gelangen, aus der die nachfolgende Population zusammengesetzt wird: Selektion.

Diese Voraussetzungen sind hinreichend trivial, so dass man logisch ableiten kann, dass sie an vielen Orten und Gelegenheiten im Universum gegeben sind. Die Ansichten darüber, ob sich Leben daraus entwickeln muss, gehen jedoch weit auseinander.

Die Schwankung von Replikatorenhäufigkeiten in einer Population

Als Evolution bezeichnet man heute allgemein jenen statistischen Vorgang, bei dem die Zusammensetzung einer Replikatoren-Population P2 aus einer Stichprobe einer zuvor bestehenden, anderen Replikatoren-Population P1 bestimmt wird. Wird aus P1 eine Stichprobe unterschiedlicher Replikatoren gezogen und aus ihr die Zusammensetzung von P2 bestimmt, so liegt Evolution vor. Läuft dieser Vorgang wiederholt ab, so weisen spätere Populationen – wie beispielsweise P5 oder P100 – jeweils schwankende Zusammensetzungen auf.

Eine evolutionsfähige Population ist eine Menge von Replikatoren. Letztere sind irgendwelche Objekte, von denen Kopien entstehen.

Die Evolution als statistischer Vorgang ist ein logisch und empirisch jederzeit beweisbares Faktum und in der Wissenschaft nicht bestreitbar. Evolution läuft niemals an Objekten, sondern immer nur an Häufigkeiten von Objekten ab. Er kann grundsätzlich an allen Mengen ablaufen, die nicht einmal den bekannten physikalischen Gesetzen gehorchen müssen.

Verlauf der Evolution auf der Erde

Schema zu den Entwicklungsstufen von Kosmos, Lebewesen und Menschheit
Schema zu den Entwicklungsstufen von Kosmos, Lebewesen und Menschheit

Evolution im hier definierten Sinn findet auf der Erde im Reich der Lebewesen statt. Der Begriff „Evolution“ wird außerhalb der Biologie teilweise anders definiert, für Vorgänge, die nach anderen Gesetzmäßigkeiten als „Replikation –> Variation –> Selektion“ verlaufen. Dies betrifft beispielsweise die Entstehung und Entwicklung von Galaxien, Sternen und Planeten inklusive der Erde; in den Gesellschaftswissenschaften unter anderem die soziokulturelle Entwicklung des Menschen und in der Systemtheorie die Entwicklung von Computerprogrammen. Die Gemeinsamkeit aller Vorgänge beruht auf einer geschichtlichen Entwicklung und häufig einer Entwicklung in Richtung höherer Komplexität. Aus biologischer Sicht kann diese synonyme Begriffsverwendung leicht zu Missverständnissen führen und ist insofern misslich.

Teilbereiche der Evolution

Evolution der unbelebten Materie

Dieses Thema beschäftigt sich mit dem Ursprung und der Entwicklung des Universums, dessen Teilchen und Elementen. Folgende Artikel befassen sich mit der Thematik:

Evolution der Lebewesen

Die Evolution der Lebewesen ist ihre Entwicklung im Laufe großer Zeitspannen innerhalb der Erdgeschichte.

Siehe dazu:


Evolution der Psyche

Unter bestimmten Bedingungen führt die Evolution zu Organismen, die über ein Bewusstsein verfügen. Dieser Entwicklungsprozess ist Gegenstand der Evolutionären Psychologie.

Evolution des Geistes

In der Philosophie über lebende Systeme betrachtet man die wissenschaftliche Entwicklung als eine Fortsetzung der biologischen Evolution und spricht von einer Evolution des Geistes:

Lebewesen seien Träger genetisch gespeicherter Informationen. In der Evolution sammle sich mehr und genauere Information in den Lebewesen an. Der Mensch sei als einziges Lebewesen in der Lage, seine geistigen, im Gehirn gespeicherten Informationen auch außerhalb des Körpers zu speichern, zum Beispiel in Büchern oder auf Disketten. Diese Informationen, unter anderem die wissenschaftlichen Ideen (als „geistige Gene“ betrachtet), könnten an alle Menschen und die Nachwelt „vererbt“ werden. Die Mittel der Evolution, nämlich Vermehrung mit Varianten und deren Selektion, setzten sich fort als wissenschaftliche Hypothesenbildungen und deren Prüfung im Versuch.

Evolution der Meme

Aufgrund zahlreicher empirischer Belege glaubt man heute einheitlich, dass die Evolution auf unserem Planeten nicht immer an denselben Replikatoren abgelaufen sein muss. Die Welt der Lebewesen, wie wir sie heute kennen, basierte zwar auf weiten Strecken auf einem chemischen Replikator, der DNA, sie ist jedoch nicht der einzige Replikator. Als weitere Replikatoren erwiesen sich beispielsweise Kristallstrukturen, die ebenfalls Kopien von sich selbst herstellen können. Auch informationstragende Einheiten, die nicht an eine chemische, sondern an eine (bio-)informatische Grundlage gebunden sind, werden als Replikatoren begriffen und wurden von Richard Dawkins 1976 als Meme bezeichnet.

Evolutorische Ökonomik

In Form der evolutorischen Ökonomik haben Gedanken der biologischen Evolution auch Eingang in die Wirtschaftswissenschaften gefunden. Hintergrund ist, dass durch freie Märkte eine Selektion unter konkurrierenden Produkten oder Produktionsverfahren stattfindet, in der sich erwünschtere Produkte und effizientere Verfahren gegen weniger gewünschte und ineffizientere durchsetzen. Ständige Produktinnovationen führen so zu einer ständigen Weiterentwicklung, die – wie in der biologischen Evolution – Untersuchungsgegenstand ist. Während in der Biologie aber die Variationen oder Mutationen nur als zufällig modelliert werden, sind sie in der evolutorischen Ökonomik ebenfalls Untersuchungsgegenstand.

Beispiele

Kettenbriefe

Kopieren: Ein Kettenbrief, der auf konventionelle Art als Brief per Post verschickt wird, muss zunächst vervielfacht werden. Dies geschah früher mit Durchschlagpapier, später mit Hilfe des Fotokopierers. Beide Verfahren erzeugen noch keine Varianten, sondern identische Kopien, führen aber dazu, dass früher oder später Briefe entstehen, die an manchen Stellen unleserlich sind.
Variieren: Solche Briefe werden neu abgeschrieben. Dabei führt das Rekonstruieren der unleserlichen Stellen oft zum Einsetzen von Wörtern, die nicht im Ursprungsbrief enthalten waren. Auch wird von einigen Personen, die Kettenbriefe weiterleiten, der Inhalt bewusst verändert, zum Beispiel bei der Höhe des Gewinns, wenn der Kettenbrief weitergeleitet wird oder bei der Art der Sanktionen, wenn er nicht weitergeleitet wird.
Auswählen: Eine Selektion wird durch den Empfänger vorgenommen. Er entscheidet, ob er den Brief kopiert, in welcher Stückzahl er ihn kopiert oder ob er ihn nicht verschickt und damit die Kette für die entsprechende Version des Kettenbriefes abbrechen lässt.

Bei Kettenbriefen, die als E-Mail verbreitet werden, entfällt die Kopierungenauigkeit. Es gibt für diese Art der Kettenbriefe noch keine Untersuchungen darüber, ob Empfänger den Text bewusst ändern, um ihrer Version eine größere Verbreitung zu ermöglichen.[1]

Selbstreplizierende künstliche organische Moleküle

Komplex aus einem Replikatormolekül (unten) und den zwei Bausteinen (oben), die zu einem vollständigen Molekül verknüpft werden. Die intermolekularen Bindungen sind Wasserstoffbrückenbindungen (hellblau) und Van-der-Waals-Wechselwirkungen (grau). – A = Adenin-, R = Ribose-, N = Naphthalin-, I = Imid-Baustein. (Als Ribose-Baustein wurde ein Derivat eines 2,3-Di-O-isopropyliden-β-D-ribofuranosids verwendet, der Imid-Baustein basierte auf der (1α, 3α, 5α)-1,3,5-Trimethyl-1,3,5-cyclohexantricarbonsäure.)
Kopieren: Selbstkomplementäre Moleküle haben die Voraussetzung, die Synthese von gleichen oder ähnlichen Molekülen autokatalytisch zu ermöglichen. Dabei bilden Matrizenmolekül (Replikator) und Bausteine einen Komplex, der stabil genug ist, die Verknüpfung der Bausteine zu einem neuen Replikatormolekül zu ermöglichen, das sich vom Matrizenmolekül wieder löst und selbst als Matrize für die Bildung eines weiteren Moleküls dienen kann. Das in der Abbildung angegebene Beispielmolekül ist zwar replikationsfähig, nicht aber evolutionsfähig, da es nur exakte Kopien seiner selbst katalysiert.
Variieren: Katalysiert ein Replikatormolekül nicht nur exakte Kopien seiner selbst, sondern auch Varianten, die selbst wieder als Matrizen dienen, können in einem entsprechenden Versuchsansatz verschiedene Arten von Replikatormolekülen entstehen.
Auswählen: Unter geeigneten Bedingungen kommt es zur Ausbildung von Replikatormolekülen, die sich in ihrer Replikationsgeschwindigkeiten unterscheiden und in Konkurrenz um Bausteinmoleküle unterschiedlich „erfolgreich“ sind. Befinden sich zum Beispiel in einem Reaktionsgefäß die Bausteine DIX (ein Diaminotriazin-Xanthen), AR (Adenin-Ribose), T (Thymin) und BI (Biphenylamid) finden sich nach einiger Zeit Replikatormoleküle in einer ihrer Replikationsgeschwindigkeit entsprechenden Konzentration: DIXBI (nicht replikationsfähig), DIXT, ARBI und ART (größte Replikationsgeschwindigkeit).[2]

Siehe auch

Referenzen

  1. Charles H. Bennett et al.: Die Evolution der Kettenbriefe. In: Spektrum der Wissenschaft. Januar 2004, S. 78 ff.
  2. Julius Rebek jr.: Künstliche Moleküle, die sich vermehren. In: Spektrum der Wissenschaft. September 1994, S. 67 ff.

Literatur

  • Klaus Dose: Chemische Evolution und der Ursprung lebender Systeme. In: W. Hoppe, W. Lohmann, H. Markl, H. Ziegler (Herausgeber): Biophysik. Springer-Verlag, Heidelberg, ISBN 3-540-11335-5.
  • Werner Ebeling: Physik der Evolutionsprozesse. Akademie-Verlag, Berlin, ISBN 3-05-500622-4.
  • Sven P. Thoms: Ursprung des Lebens. Frankfurt 2005.
Wiktionary: Evolution – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen