Tiefsinn

Tiefsinn beschreibt seit der Aufklärung und in besonderer Weise in der Romantik im Deutschen eine grüblerische Haltung bzw. Geistesverfassung, oft mit der Konnotation „trübsinnig/melancholisch“ und/oder „unergründlich“ (d. h. keinen letzten Grund findend bzw. suchend).

Der Literaturwissenschaftler Erich Auerbach (1892 – 1957) verwandte den Begriff „Tiefsinn“ daneben zur Beschreibung der Bedeutungsdimension literarischer Texte bzw. zeichenhafter Formation generell.

Aufklärung

Immanuel Kant begriff „Tiefsinnigkeit (melancholia)“ als einen „Wahn von Elend …, den sich der trübsinnige (zum Grämen geneigte) Selbstquäler schafft“.[1] Friedrich Heinrich Jacobi verstand seinen „kindischen Tiefsinn“ als ein „Nachgrübeln über die Ewigkeit a parte ante“.[2]

Nach Lothar Pikulik war schon die Empfindsamkeit eine Epoche tiefsinnigen Grübelns, was etwa anhand von Lavaters Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst deutlich werde. Steffen Martus untersuchte die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert am Beispiel von Hagedorn, Gellert und Wieland.[3]

Romantik

Friedrich Schlegel sprach vom „unergründlichsten und verwickelsten Tiefsinn“,[4] wie er sich im Werk Albrecht Dürers zeige. Carl Gustav Carus wies auf einen antiplatonischen Aspekt von Tiefsinn hin und verstand diesen als „diejenige Richtung des Geistes, welche sich gegen die Erforschung der Idee selbst kehrt.“[5]

Die Romantik entdeckte in besonderer Weise den Tiefsinn und die „Dimension der Tiefe“.[6] Der Literaturwissenschaftler Northrop Frye zeigte den romantischen Tiefsinn am Beispiel von William Blake und Percy Bysshe Shelley, ähnliches bemerkte später Theodore Ziolkowski für die deutsche Romantik. Die leitmotivische Reise ins Innere eines Bergwerks etwa, wie sie das romantische Kunstmärchen von Novalis über Ludwig Tieck bis hin zu E.T.A. Hoffmann prägte, ist nach Ziolkowski ein Ausdruck von Tiefsinn. Novalis‘ Held Heinrich von Ofterdingen etwa vollziehe anhand einer Reise ins Berginnere auch eine Reise nach innen, eine „Bewegung zu sich selbst“. Die romantische Tiefendimension erkunde „Bergwerke der Seele“ und erschließe so drei wesentliche Dimensionen menschlicher Erfahrung: „Geschichte, Religion und Sexualität.“[7].

Walter Benjamin über das Barockzeitalter

Walter Benjamin entwarf eine Vorstellung des tiefsinnigen Barockzeitalters. Er verwies auf Albrecht Dürers melancholisches Grübeln und legte dieses seiner Konzeption von Trauerspiel, Melancholie und Allegorie zugrunde. Der barocke Melancholiker spiegle sich in der Allegorie, weil sein tiefsinniges Naturell keine endgültige Erkenntnis, sondern nur eine unendliche Ähnlichkeit zwischen allen Wesen finde, ein einziger Sinn aber unauffindbar sei: „Gespenster wie die tief bedeutenden Allegorien sind Erscheinungen aus dem Reiche der Trauer; durch den Trauernden, den Grübler über Zeichen und Zukunft, werden sie angezogen.“[8]

Erich Auerbach: Tiefsinn als Textdimension

Der Literaturwissenschaftler Erich Auerbach (1892 – 1957) benutzte den Begriff Tiefsinn zur Beschreibung einer Textdimension, d. h. als Bedeutungsdimension literarischer Texte bzw. zeichenhafter Formation generell: Er sprach vom Tiefsinn der alttestamentlichen Texte und unterschied diesen vom homerischen Stil einer Ästhetik der Oberfläche.[9] Diese Unterscheidung ging zurück auf die These des Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin (1864 – 1945) von der Tiefenhaftigkeit der Barockmalerei.

Literatur

  • Northrop Frye: The Drunken Boat: The Revolutionary Element in Romanticism. In: Northrop Frye: Romanticism Reconsidered. Selected Papers from the English Institute, New York 1963.
  • Burkhard Meyer-Sickendiek: Tiefe. Über die Faszination des Grübelns. Fink Verlag, Paderborn/München 2010. ISBN 978-3-7705-4952-8.
  • Lothar Pikulik: Die Frühromantik in Deutschland als Ende und Anfang. Über Tiecks William Lovell und Friedrich Schlegels Fragmente. In: Silvio Vietta (Hrsg.): Die literarische Frühromantik. Göttingen 1983.
  • Theodore Ziolkowski: Das Bergwerk: Bild der Seele. In: Theodor Ziolkowski: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen. München 1994, S. 29–82.

Einzelnachweise

  1. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Immanuel Kant: Akademie-Ausgabe. Band 7, S. 213.
  2. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. IV, 2, hrsg. v. Friedrich Roth und Friedrich Köppen, Darmstadt 1968, S. 67f
  3. Steffen Martus: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert. Zur Temporalisierung der Poesie in der Verbesserungsästhetik bei Hagedorn, Gellert und Wieland. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74, 2000, S. 27–43.
  4. Friedrich Schlegel: Nachricht von den Gemählden in Paris. An einen Freund in Dresden, in: Europa 1803, 1.Bd.1.St., S. 154f.
  5. Carl Gustav Carus: Vorlesungen über Psychologie, geh. im Winter 1829/30 zu Dresden, Erlenbach ; Zürich ; Leipzig 1931, S. 409.
  6. Inka Mülder-Bach: Tiefe. Zur Dimension der Romantik, in: Räume der Romantik, hg.v. Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann, München 2007, S. 83–102
  7. Theodor Ziolkowski: Das Bergwerk: Bild der Seele, in: Ders.: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, München 1994, S. 46f.
  8. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band I1, S. 370.
  9. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, S. 14.