Iphigenie auf Tauris

Johann Wolfgang Goethe schrieb im Jahr 1786 sein Bühnenstück "Iphigenie auf Tauris", nach der Vorlage von Euripides' Iphigenie bei den Taurern. Das zunächst in Prosa angelegte Werk wurde von Goethe dann in Verse umgeformt. Eine Textfassung findet sich hier: Iphigenie auf Tauris


Kurzzusammenfassung

Vorgeschichte

Iphigenie gehört thematisch in die Tantalidensage der griechischen Mythologie. Auf ihrer Familie, dem Haus der Tantaliden, lastete ein Fluch, der auch sie erreichte: Als ihr Vater Agamemnon die Griechen gegen die Trojaner geführt und mit der Flotte im Hafen Aulis widriger Winde wegen festgelegen hatte, war er bereit gewesen, der Göttin Artemis (im Stück mit ihrem lateinischen Namen "Diana" genannt) seine älteste Tochter Iphigenie zu opfern. Sie war jedoch von der Göttin in deren Tempel nach Tauris entrückt worden (vgl. Iphigenie in Aulis).

Die antike Stadt Tauris wird nach herrschender Meinung auf der Krim lokalisiert.

1. Aufzug

Iphigenie lebt seit einigen Jahren auf Tauris und ist dort Artemispriesterin geworden. Obwohl sie der Göttin dankbar und bei König und Volk hoch angesehen ist, sehnt sie sich zurück in ihre Heimat: Und an den Ufern sitz ich lange Tage, | das Land der Griechen mit der Seele suchend ... Sie hat gegen Widerstand durchgesetzt, dass schiffbrüchige Fremde nicht mehr der Göttin zum Opfer gebracht werden, wie vordem üblich.

Im 2. Auftritt spricht sie mit Arkas, einem Berater des Königs Thoas. Er sucht sie zu darauf einzustimmen, einem Heiratsantrag des Königs zu folgen. Iphigenie lehnt dies jedoch entschieden ab.

Im 3. Auftritt eröffnet sie dem König Thoas auf Rat des Arkas ihre fatale Herkunft. Trotz des Fluches will Thoas sie ehelichen, aber Iphigenie weigert sich, da sie ihn als zweiten Vater empfinde und nicht als einen Geliebten. Thoas fordert, sie solle weniger ihren Überlegungen als ihren Gefühlen folgen (Z.463-467).

Im 4. Auftritt betet Iphigenie zur Göttin, sie aus ihrer Verzweiflung zu erlösen.

2. Aufzug

Orest, ihr Bruder, und Pylades, sein Freund, sind auf Grund eines zweideutigen Orakelspruchs nach Tauris gesegelt. Sie glauben, das dortige Standbild der Göttin aus dem Tempel entwenden zu müssen. Im Gegensatz zu Pylades hat dessen Freund Orest wenig Hoffnung, er glaubt, dass nur der Tod seinen Fluch lösen könnte - denn auch er unterliegt ihm: Er hat seine Mutter erschlagen, um seinen Vater Agamemnon zu rächen und wird von den Rachegöttinnen verfolgt.

Iphigenie spricht zunächst mit Pylades, der seinen wahren Namen verschweigt. Die Erzählungen aus ihrer Heimat verstärken die Sehnsucht der Priesterin und sie erfährt über den Tod ihres Vaters.

3. Aufzug

Orest offenbart der Priesterin sofort seinen wahren Namen: "Zwischen uns sei Wahrheit: Ich bin Orest." (Z. 1080f.).

An dieser Stelle wird bereits klar, dass die Neubesucher für zwei unterschiedliche Lösungen von Problemen stehen: Orest strebt den ehrlichen Weg an, während sich sein Freund der List zuwendet.

Obwohl ihr Bruder seinen Tod fordert, fühlt sich Iphigenie in einem Dilemma. Einerseits der Loyalität zu Thoas verpflichtet, anderseits möchte sie auf keinen Fall neues Blut vergießen und somit den Fluch fortsetzen.

Im zweiten Auftritt erfährt Orest einen Heilschlaf, der ihn erkennen lässt, dass eine unblutige Lösung des Fluches möglich ist.

4. Aufzug

Pylades plant inzwischen die Flucht mit Orest und Iphigenie. In einem Monolog im ersten Auftritt erläutert die Priesterin den Fortschritt: Es würden bereits Schiffe bereit stehen, allerdings fällt es der Priesterin schwer, den König zu hintergehen. Zusätzliche Verunsicherung schafft Pylades, indem er ihr vorhält, sie müsse nur dann ein schlechtes Gewissen haben, wenn Orest und er umgebracht würden.

Arkas teilt ihr mit, dass sie das Opfer der Schiffbrüchigen beschleunigen soll, der König sei ungeduldig, doch Iphigenie antwortet darauf, sie warte auf einem Zeichen der Götter. Am Ende des 5.Auftritts erinnert sich Iphigenie im Lied der Parzen an die Willkür der Götter.

5. Aufzug

Iphigenie beschließt, Thoas in den Plan einzuweihen und die Wahrheit zu erzählen. Anfangs reagiert er wütend, schließlich richtet sich sein Zorn jedoch auf sich selbst, da er ihr Verhalten auf seine Einwirkung zurückführt. Seine Wut wird gemildert, sobald die Priesterin die Identität von Orest offenbart. Thoas fürchtet in ihm, dem Muttermörder, jedoch den Verbrecher. In der nächsten Szene möchte Orest gewaltsam die Flucht erreichen, Iphigenie kann jedoch eine Eskalation vermeiden.

Auf Verweis auf sein Versprechen, erlaubt der König den drei Griechen zu gehen. Der Orakelspruch findet nun seine richtige Deutung: Es ist die Priesterin selbst, nicht das Standbild der Göttin gemeint gewesen.

Somit ist der Fluch auf Orest durch humanes Verhalten gelöst.

Charakterisierung der Hauptfigur

Iphigenie hat eine klassische Wahl zwischen Pflicht und Neigung zu treffen: Viele und wichtige göttliche und menschliche Pflichten binden sie an ihre taurischen Aufgaben, aber ihr ganzes Herz will fort. Darin muss sie sich bewähren

Sie wird als idealer Mensch charakterisiert. Hauptanlagen sind vor allem ihre Frömmigkeit, ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre an sich redlichen Absichten.

Sie ist somit eine typische Heldin und Vertreterin des klassischen Humanitätsideals. Am Anfang erscheint ihr Schicksal als Determination. Dass sie selbst und nicht "deus ex machina" den Konflikt löst, spricht für die geistige Stärke des Menschen, aber auch der Forderung nach Emanzipation der Geschlechter.

Das Dilemma in Goethes Werk spiegelt sich vor allen in Iphigenies Seele: Das Abwägen zwischen ihrer menschlichen Güte und der Pflichterfüllung als Priesterin. Es ist zudem der Konflikt zwischen der Liebe zu ihrem Bruder und dem Auftrag, ihn zu töten und der Antagonismus zwischen ihrer Sehnsucht nach der Heimat und ihrer unbedingten Wahrheitsliebe.

Letztlich verkörpert sie das Ideal der Klassik: Das richtige Verhalten erfordere kein besonderes Nachdenken. Allein die innere Verpflichtung zu Menschlichkeit und Wahrheit weisen in diesem Seelendrama den Weg.

Merkmale des klassischen Dramas in der "Iphigenie auf Tauris"

Die Klassik hält an der Forderung des „Sturm und Drang“ nach der Entwicklung zu harmonischer Individualität fest. Dies setzt voraus, dass der Mensch seine Einordnung anerkennt, und dass andererseits der Einzelne in der Ordnung nicht unterdrückt werden darf und individuelle Freiheit suchen und gewährt erhalten soll. Vermittelt werden die auseinanderstrebenden Prinzipien durch das individuelle „Maß“. Iphigenie respektiert ihre gesellschaftliche Verantwortung, denn auch in diesem 'barbarischen' Nordland ist sie keine „Gefangene“, aber ihre Fahrt in die Freiheit ist desgleichen legitim. Goethe zeigt durch Iphigenie, wie der Mensch sein soll und nicht wie er ist.

Sie muss und kann ihren Weg suchen, was wiederum auch Thoas zwingt, sich der gleichen Herausforderung zu stellen. Indem sie ihm den Plan des Pylades verrät, riskiert sie zwar viel, aber ist gleichzeitig ein Vorbild für ihn, sich ebenfalls auf die Wahrheit und sein Versprechen zu berufen.

Zur sprachlichen Gestaltung und Form

Versmaß: Fünfhebige Jamben mit wechselnden weiblichen und männlichen Reimen. Der Blankvers, der vor allem Lessing in das deutsche Drama etablierte, gilt zu damaliger Zeit als besonders rein, natürlich, ästhetisch und vorbildhaft.

Wortschatz: Über Goethes Wortschatz und -prägekraft muss hier nicht gesprochen werden. Doch fallen die verallgemeinernden Begriffe, sentenzenhaften Prägungen und Oxymora auf.

Syntax: Überwiegend komplex gebauter hypotaktischer Satzbau, der es ermöglicht, die inneren Vorgänge der Personen darzustellen.

Wenn der Mensch nach diesem Ideal lebt, so spricht man von doppelter Harmonie. Die Humanität zeigt sich im Streben nach ihr. Voraussetzung ist hier eine Verbindung von „Pflicht“ und „Neigung“ (Vernunft und Gefühl), die Menschenopfer unnötig macht. Bereits im Menschen selbst steckt Humanität, da es von dem Lateinischen "Humanitas" (Menschlichkeit) abstammt.

Die klassisch und klassizistische Humanität, die Goethe in seiner Iphigenie ausdrückt wird später von Heine (z.B. im Lied der Marketenderin) umgekehrt und ironisiert.

Zur Thematik bei Goethe

In dieser Schutzhütte auf dem Schwalbenstein nahe Ilmenau in Thüringen schrieb Goethe den 4. Aufzug der Iphigenie an nur einem Tag.

Das Stück wählt zwar einen antiken Stoff, gibt jedoch mit seiner Problematik ein seelisch sehr realistisches und zeitnahes Bild eines Problems seines Verfassers wieder. Goethe war Staatsminister (eine Art Regierungschef) des Herzogtums Sachsen-Weimar, genoss das Vertrauen des Herzogs, entfernte sich aber immer mehr von seinem Dichterberuf.

Sein heimlicher und jäher Aufbruch, seine "Italienische Reise", inspiriert ihn und lässt ihm die Antike als ästhetisches Vorbild erscheinen. Selbst das der Iphigenie (in vortrefflich nachempfundenem antiken Geist) in den Mund gelegte berühmte "Parzenlied" (Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht. Sie halten die Herrschaft in ewigen Händen und können sie wenden, wie's ihnen gefällt ... ) kann ebensowohl als Gleichnis des Lebens an einem Fürstenhof verstanden werden (Der fürchte sie doppelt, den je sie erheben ... ).

Literatur

  • Erstausgabe: J. W. Goethe. Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. Leipzig: Göschen 1787.
  • Theodor W. Adorno: "Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie". In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1981.
  • Kathryn Brown und Anthony Stephens: "«... hinübergehn und unser Haus entsühnen». Die Ökonomie des Mythischen in Goethes Iphigenie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 32 (1988), S. 94-115.
  • Franz-Josef Deiters: "Goethes «Iphigenie auf Tauris» als Drama der Grenzüberschreitung oder: Die Aneignung des Mythos". In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1999, S. 14-51.
  • Wolfdietrich Rasch: Goethes "Iphigenie auf Tauris" als Drama der Autonomie. München 1979.