Gammastrahlung

Gammastrahlung

Gammastrahlen, γ-Strahlen oder γ-Strahlung bezeichnet den Teil der elektromagnetischen Strahlung, der eine sehr kurze Wellenlänge (unter 0,5 nm) hat und bei manchen Kernprozessen entsteht. Die zugehörigen Energien der Photonen liegen ab etwa 2,5 keV aufwärts. Die Photonen der Gammastrahlung werden auch Gammaquanten, Symbol , genannt.

Während Alphastrahlung und Betastrahlung aus elektrisch geladenen Teilchen bestehen, handelt es sich bei -Quanten um ungeladene, elektromagnetische Strahlung. Gammastrahlen lassen sich daher weder von elektrischen noch von magnetischen Feldern beeinflussen.

Der Name stammt von der Einteilung der ionisierenden Strahlen aus radioaktivem Zerfall in Alphastrahlen, Betastrahlen und Gammastrahlen mit deren steigender Fähigkeit, Materie zu durchdringen.

Entstehung

Radioaktivität

Gammastrahlung entsteht als Folge eines vorhergehenden radioaktiven Zerfalls (z.B. α- oder β-Zerfall) eines Atomkerns. Der nach dem Zerfall zurückbleibende Kern, das sogenannte Tochternuklid, befindet sich in der Regel in einem angeregten Zustand, z.B. schwingt oder rotiert er. Diese Anregungsenergie kann in Form von Gammastrahlung abgegeben werden. Beim Übergang in einen weniger angeregten Zustand oder den Grundzustand wird -Strahlung ausgesandt, siehe Zerfallsschema. Aufgrund der quantenmechanischen Eigenschaften des Atomkerns kann dabei nur Strahlung ganz bestimmter Energien abgegeben werden. Gammastrahlung ist also durch ein diskretes Energiespektrum gekennzeichnet. Die Energie des Gamma-Photons entspricht der Energiedifferenz zwischen den beiden Zuständen.

Der angeregte Zustand kann aber statt durch α- oder β-Zerfall auch auf andere Weise, wie Neutroneneinfang oder andere Kernreaktionen oder die vorherige Absorption eines -Quants, entstanden sein.

Die durchschnittliche Verzögerungs- oder Halbwertszeit zwischen dem vorhergehenden Zerfall und der Emission des -Quants hängt vom Kern ab. Typische Halbwertszeiten dieses Zerfallstyps sind vom kernphysikalischen Standpunkt gesehen vergleichsweise lang, da der angeregte Kern (ähnlich einem pulsierenden Rugbyball) ein oszillierendes Quadrupolfeld aufbaut. Weil das abgestrahlte -Quant aber nur Dipolschwingungen aufnehmen kann, schwingt der Kern insgesamt sehr dämpfungsarm.

Gemäß der Heisenbergschen Unschärferelation ist die mittlere Lebensdauer (die Halbwertszeit geteilt durch ln2) eines Übergangs umgekehrt proportional seiner Energieunschärfe oder Linienbreite :

= ħ / .

Die Energiezustände in Atomkernen sind – zumindest bei "langen" Halbwertszeiten von mehr als etwa 10-15 Sekunden – wohldefiniert; daher sind die Wellenlängen oder Energien der Gammastrahlen eines radioaktiven Nuklids charakteristisch, vergleichbar etwa dem Linienspektrum chemischer Elemente. (Hochenergetische Prozesse, insbesondere Kernspaltung und Kernfusion können jedoch auch kontinuierliche oder quasi-kontinuierliche Gammaspektren erzeugen.)

Bezeichnung nach Mutternuklid

Die kernphysikalisch "lange" Halbwertszeit der Gammaübergänge ist vom praktischen Standpunkt her gesehen meist immer noch sehr kurz (weit unter 1 Sekunde). Will man Gammastrahlung für Forschungs-, medizinische oder technische Zwecke nutzen (siehe unten) -- beispielsweise die vom 2,5-MeV-Zustand des Nuklids Nickel-60 ausgesandte Kaskade zweier Photonen von 1,17 und 1,33 MeV -- braucht man daher ein Präparat des Betastrahlers Cobalt-60. Dieses Nuklid zerfällt mit 5,26 Jahren Halbwertszeit zum gewünschten Ni-60-Zustand.

Zerfallsschema von 60Co

Aus diesem praktischen Grund werden Gammastrahlen (nicht nur beim Ni-60, sondern ganz allgemein, auch in wissenschaftlich-technischen Unterlagen, Tabellen usw.) immer dem Mutternuklid, im Beispiel dem Co-60, zugeordnet: man spricht von Cobalt-60-Strahlung, Kobaltbombe usw., auch wenn es nur um die Gammastrahlung geht, die vom Tochterkern Ni-60 emittiert wird.

Die seltenen Fälle von angeregten Atomkernen, die mit Halbwertszeiten von Sekunden, Minuten oder noch länger zerfallen, werden als metastabil oder als Kernisomere bezeichnet.

Rückstoßfreie Emission

Es ist möglich, dass der Rückstoßimpuls nicht nur von dem einzelnen Atomkern, sondern von dem gesamten Kristallgitter übernommen wird, in das dieser eingebettet ist. Dadurch wird der Energieanteil, der dem Photon durch Rückstoß verloren geht, vernachlässigbar klein. Ist zudem die Halbwertszeit des angeregten Zustands hoch, entstehen Gammastrahlen mit einer extrem scharfen Energie, die sich hervorragend für hochpräzise relative Messungen eignen (Mößbauer-Effekt). Die Linienbreite dieser -Strahlung liegt dabei in Größenordnungen von Übergängen, welche für Atomuhren genutzt werden.

Paarvernichtung

Bei der Paarvernichtung, beim Zusammenstoß von Teilchen und Antiteilchen entsteht, neben anderen möglichen Reaktionskanälen, auch Gammastrahlung. Die dabei erzeugten Gammaquanten tragen zusammen mindestens die Energie, die der Ruhemasse der vernichteten Teilchen entspricht.

Terminologie: Gammastrahlung, Röntgenstrahlung, Synchrotronstrahlung

Die Energiebereiche natürlicher Gamma- und Röntgenstrahlung überlappen sich. Deshalb werden auf manchen Arbeitsgebieten, wo der Entstehungsprozess der Strahlung noch nicht bekannt oder nicht besonders wichtig ist -- etwa Astronomie (siehe Röntgenastronomie, Gammaastronomie) oder Strahlentherapie -- die Bezeichnungen Gamma- und Röntgenstrahlung mehr oder weniger gleichbedeutend verwendet. Auch Bremsstrahlung oder Synchrotronstrahlung wird daher manchmal als Gammastrahlung bezeichnet, so z. B. bei den kosmischen Gammastrahlen.

Gammablitze (englisch Gamma Ray Bursts) - auch Gammastrahlen-Explosionen genannt - stellen eines der energiereichsten Phänomene im Weltall dar, ihr Entstehungsmechanismus ist noch nicht geklärt.


Wechselwirkung mit Materie

Gammastrahlung ist die am schwersten abzuschirmende ionisierende Strahlung).

Im Gegensatz zur Bragg-Kurve bei Teilchenstrahlung verläuft der Energieeintrag der Gammastrahlung exponentiell abfallend mit der Eindringtiefe.

Zur Abschirmung der durch ihre hohe Energie und elektrische Neutralität der Quanten besonders durchdringungsstarken Gammastrahlung werden deutlich dickere Materieschichten benötigt als für Alpha- oder Betastrahlung. Prinzipiell kann man sagen: Je größer die Ordnungszahl eines Materials ist, desto größer ist die Abschirmwirkung. Deshalb verwendet man beispielsweise Bleiplatten. Die Halbwertsschicht gibt an, welche Dicke benötigt wird, um die Hälfte der Strahlen abzuschirmen. Nach zwei Halbwertsschichten verbleibt noch ein Viertel der Ausgangsstrahlung usw.

Biologische Wirkung

Auf den Menschen wirkt Gammastrahlung, ähnlich wie die Röntgenstrahlung, primär durch ihre energetische Wirkung, die unter anderem Verbrennungen auslösen kann, und sekundär durch ihre ionisierende Wirkung. Durch ihre besonders hohe Energie und im Vergleich zu geladenen Teilchen größere Eindringtiefe kann sie stark erbgutschädigend wirken.

Strahlenschutz

Strahlenschutzmaßnahmen dienen der Verringerung der aufgenommenen Strahlendosis. Die Dauer der Bestrahlung kann durch z. B. durch sorgfältige Arbeitsplanung möglichst gering gehalten werden, die Intensität der Strahlung durch Abschirmung und Einhaltung möglichst großer Abstände. Wie bei jeder Strahlung ist, wenn die Quelle klein im Vergleich zur bestrahlten Fläche ist, die Intensität umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands von der Quelle. Doppelter Abstand bedeutet also Verringerung der Intensität auf ein Viertel.


Anwendungen

Medizin

Gammastrahlung aus radioaktiven Quellen und hochenergetische Bremsstrahlung aus Beschleunigern werden in der Strahlentherapie verwendet. Die Strahlenenergie in der Teletherapie muß möglichst hoch sein, z.B. beträgt die Zerfallsstrahlung einer Strahlentherapiequelle aus Co-60 1,17 - 1,33 MeV. Auch in der Brachytherapie mittels kleiner, in den Körper eingeführter Präparate werden Gammastrahlen angewendet (meist Ir-192).

Sensorik und Materialprüfung

Gammastrahlung kann Materie durchdringen, ohne reflektiert oder gebrochen zu werden. Ein Teil der Strahlung wird beim Durchgang absorbiert, abhängig von der Dichte und der Dicke des Mediums. Bei der Füllstandsmessung mit Gammastrahlung nutzt man diesen Umstand, denn die gemessene Strahlungsintensität hängt davon ab, ob sich in dem betrachteten Gefäß ein Medium befindet oder nicht. Eine weitere Anwendung von Gammastrahlen findet man bei der Durchstrahlungsprüfung, mit deren Hilfe man Ablagerungen, Korrosionsschäden oder Erosionsschäden an der Innenseite von Apparaten und Rohrleitungen nachweisen kann. Im Grenzschutz werden Radionuclide Identifying Devices eingesetzt, die über die Gammastrahlung Rückschlüsse auf die transportierten radioaktiven Stoffe zulassen.

In der Technik eingesetzte Gammastrahler sind Iridium 192 (192Ir) und Cobalt 60 (60Co). Ein Nachteil von Gammastrahlen ist, dass die Strahlenquellen nicht abgeschaltet werden können. Bei der Verwendung von Gammastrahlung im Betrieb müssen wegen ihrer Gefährlichkeit umfangreiche Strahlenschutzmaßnahmen ergriffen werden.

Sterilisation

Zur Strahlensterilisation kommen Gammabestrahlungsanlagen für technische und medizinische Produkte sowie für Lebensmittel zum Einsatz. In diesen Anlagen wird fast ausschließlich das oben erwähnte Cobalt 60 (60Co) verwendet. Der Gammastrahler Caesium-137, der durch Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente aus Kernreaktoren gewonnen wird, steht nicht in ausreichenden Mengen für eine kommerzielle Anwendung zur Verfügung. Dagegen wird radioaktives Cobalt-60 aus nicht-radioaktivem Cobalt-59 in speziellen Kernreaktoren in großen Mengen "erbrütet". Die Strahlensicherheit wurde durch die Versenkbarkeit der Strahlenquellen in ein entsprechend tiefes Wasserbecken realisiert. Bei einigen Anlagen wird die Strahlensicherheit auch in tiefen Betonbunkern ohne Wasser gesichert. Ein elektronisches und mechanisches Sicherheitssystem realisiert die Sicherheit der Mitarbeiter und den Hebe-und Senkmechanismus des Strahlenkorbes. Die technische Anwendung findet man z. B. bei der strahlenchemischen Vernetzung von Polymeren. Medizinische Produkte werden durch die Bestrahlung mit Gammastrahlen sterilisiert. Hier hat man den Vorteil, dass die Sterilisation in der Verkaufsverpackung erfolgen kann. Weiterhin sind eingeschweißte medizinische Notfallbestecke sterilisierbar. In der Lebensmittelbestrahlung ist in der Zeit von 1986 bis 1990 vor allem die Zwiebelbestrahlung zu nennen, die in der ehem. DDR durchgeführt worden ist. Eine hierauf spezialisierte Gammabestrahlungsanlage stand auf dem Territorium der LPG (P) Queis in Spickendorf. In der DDR konnten noch zahlreiche andere Lebensmittel bestrahlt werden; eine Kennzeichnung war nicht vorgesehen. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland erloschen alle diese Zulassungen.

Forschungsgeschichte

1900 fand Paul Ulrich Villard eine Komponente in der 4 Jahre zuvor von Antoine Henri Becquerel entdeckten radioaktiven Strahlung, die sich nicht durch Magnetfelder ablenken ließ und ein sehr hohes Durchdringungsvermögen von Materie aufzeigte. Da es die dritte gefundene Strahlkomponente war, prägte Ernest Rutherford den Begriff Gammastrahlung.

Durch Beugung von Gammastrahlung an Kristallen gelang es Rutherford und Edward Andrade 1914 zu zeigen, dass es sich um eine Form von elektromagnetischer Strahlung handelt. Die gefundenen Wellenlängen waren sehr kurz und mit der von Röntgenstrahlung vergleichbar.

Literatur

  • Werner Stolz, Radioaktivität. Grundlagen - Messung - Anwendungen, Teubner, 5. Aufl 2005, ISBN 3-519-53022-8
Kernphysik
  • Theo Mayer-Kuckuk, Kernphysik, Teubner, 6. Aufl. 1994, ISBN 3-519-03223-6
  • Klaus Bethge, Kernphysik, Springer 1996, ISBN 3-540-61236-X
  • Jean-Louis Basdevant, James Rich, Michael Spiro, Fundamentals in Nuclear Physics: From Nuclear Structure to Cosmology, Springer 2005, ISBN 0387016724
Forschungsgeschichte
  • Milorad Mlađenović, The History of Early Nuclear Physics (1896-1931), World Scientific 1992, ISBN 9810208073
Strahlenschutz
  • Hanno Krieger, Grundlagen der Strahlungsphysik und des Strahlenschutzes, Teubner 2004, ISBN 3519004879
  • Claus Grupen, Grundkurs Strahlenschutz. Praxiswissen für den Umgang mit radioaktiven Stoffen, Springer 2003, ISBN 3540008276
  • James E Martin, Physics for Radiation Protection, Wiley 2006, ISBN 0471353736
Medizin
  • Günter Goretzki, Medizinische Strahlenkunde. Physikalisch-technische Grundlagen, Urban&Fischer 2004, ISBN 3437472003
  • Thomas Herrmann, Michael Baumann, Wolfgang Dörr, Klinische Strahlenbiologie - kurz und bündig, Urban&Fischer Februar 2006, ISBN 3437239600

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