Denisova-Mensch

Bei dem homininen Fossil aus der Denissowa-Höhle im Altai-Gebirge handelt es sich um das dritte (äußere) Fingerglied (Phalanx distalis) des kleinen Fingers eines Individuums der Gattung Homo, das keiner zuvor bekannten Art zugeordnet werden konnte. Das 48.000 bis 30.000 Jahre alte Fossil war 2008 von russischen Forschern in der Denissowa-Höhle im südlichen Sibirien entdeckt und im März 2010 in der Fachzeitschrift Nature erstmals wissenschaftlich beschrieben worden.[1]

Einer Forschergruppe um Johannes Krause und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig war es gelungen, die Mitochondrien-DNA (mt-DNA) des Fundes zu sequenzieren. Die Bekanntgabe der Ergebnisse dieser DNA-Analyse sorgte für weltweites Aufsehen, da das Fossil als Beleg für eine bis dahin unbekannte, nur entfernt mit Neandertaler und Homo sapiens verwandte Population der Hominini interpretiert wurde. Die Ausgrabungen waren vom Naturkundemuseum von Nowosibirsk durchgeführt worden.

Analyse der mtDNA

Johannes Krause, ein ehemaliger Doktorand von Svante Pääbo und Experte für die Analyse von Neandertaler-DNA, hatte aus 30 Milligramm pulverisiertem Material des Fingerknochens, der vermutlich von einem fünf- bis siebenjährigen Kind stammt, genügend mt-DNA gewonnen, um deren vollständige Nukleotidsequenz rekonstruieren zu können. Danach wurde diese mt-DNA-Sequenz mit jener von 45 heute lebenden Menschen verglichen, ferner mit der mt-DNA-Sequenz eines jungpleistozänen Homo sapiens aus Rostenki (Russland), mit den vollständigen mt-DNA-Sequenzen von sechs Neandertalern sowie mit der mt-DNA je eines Schimpansen und eines Bonobo. Während Neandertaler und moderner Mensch im Durchschnitt 202 voneinander abweichende mt-DNA-Nukleotide aufweisen, ist die Anzahl der Abweichungen zwischen dem Fund aus der Denissowa-Höhle und dem modernen Menschen mit 385 fast doppelt so groß.

Aus dem Vergleich dieser Daten mit den Abweichungen zwischen Mensch und Schimpansen (1462 Positionen) wurde abgeschätzt, dass sich die Entwicklungslinien des Denissowa-Individuums und des modernen Menschen bereits vor 1.314.000 bis 779.000 Jahren getrennt haben, während sich die Entwicklungslinien von Homo sapiens und Neandertaler erst vor 618.000 bis 321.000 Jahren trennten. Daraus wurde geschlossen, dass es vor rund 40.000 Jahren im Altai neben Homo sapiens und dem Neandertaler noch eine dritte, unabhängig von diesen beiden Arten dorthin eingewanderte Population der Gattung Homo gegeben habe.

Taxonomische Einordnung des Fossils

Die taxonomische Einordnung des Fossils ist ungeklärt. Der Fund wird von seinen Entdeckern bisher neutral – nach dem Fundort – als „Denissowa-Hominine“ bezeichnet. In einem Begleitartikel zur Fachveröffentlichung in Nature wurde der Evolutionsbiologe Eske Willerslev, Direktor des Centre for Ancient Genetics der Universität Kopenhagen, zitiert, der gleichfalls davon abriet, allein aus einer mt-DNA-Analyse die Entdeckung einer neuen biologischen Art abzuleiten;[2] in diesem Begleitartikel ist auch von weiteren Knochenfunden die Rede, die möglicherweise weitere Anhaltspunkte für eine sichere taxonomische Einordnung liefern. Die Abspaltung der „Denissowa-Homininen“ von der zum Neandertaler und zum modernen Menschen führenden Entwicklungslinie vor rund einer Million Jahren bedeutet aber, dass sie vorläufig als späte Nachfahren des Homo erectus einzuordnen sind, da diese Art zum Zeitpunkt der Abspaltung beider Entwicklungslinien die einzige derzeit bekannte Art der Gattung Homo ist.

Die Leipziger Forscher kündigten im März 2010 an, im Anschluss an die mt-DNA auch die vollständige DNA aus Zellkernen des Fossils zu sequenzieren.[3] Fest steht bereits, dass das von den Leipziger Forschern inoffiziell „X-Woman“ genannte und als „Mädchen“ beschriebene Fossil kein Y-Chromosom besaß, also eine junge Frau war.[4]

Siehe auch

  • dw-world.de vom 25. März 2010: „Alles deutet auf eine neue Spezies Mensch hin.“ Interview mit Johannes Krause über die Tragweite seiner Entdeckung

Einzelnachweise

  1. Johannes Krause, Qiaomei Fu, Jeffrey M. Good, Bence Viola, Michael V. Shunkov, Anatoli P. Derevianko und Svante Pääbo: The complete mitochondrial DNA genome of an unknown hominin from southern Siberia. Nature, Band 464, Online-Vorabveröffentlichung vom 24. März 2010, doi:10.1038/nature08976
  2. Rex Dalton: Fossil finger points to new human species. DNA analysis reveals lost relative from 40,000 years ago. Nature, Band 464, 2010, S. 472–473, doi:10.1038/464472a
  3. faz.net vom 25. März 2010, Sonja Kastilan: „Sensationsfund ‚X-Woman‘. Entdeckten Forscher eine neue Menschenart?“
  4. zeit.de vom 25. März 2010: „Der kleine Finger der Evolution. Ein Fossil aus Russland stammt womöglich von einer bislang unbekannten Menschenart.“