Preußische Reformen

Die Preußischen Reformen oder nach ihren Hauptinitiatoren auch Stein- und Hardenbergsche Reformen genannt, waren eine Reaktion auf die Niederlage Preußens gegen Napoléon in der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Jahr 1806. Große Gebietsverluste, erdrückende Tributzahlungen an Frankreich und das Bestreben, sich im Kreis der Großmächte behaupten zu wollen, zwangen Preußen seit 1807 zu Modernisierungen, die auf den Ideen der Aufklärung beruhten und Teil einer gesamteuropäischen Entwicklung waren. Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein und nach ihm Karl August Fürst von Hardenberg waren hauptverantwortlich für die Leitlinien der Politik und trieben vor allem die Reformen in Verwaltung und Staatsverfassung im weitesten Sinn sowie die Veränderungen in der Agrarverfassung und Gewerbeordnung voran. Hinzu kamen die damit verknüpften Militärreformen von Gerhard von Scharnhorst, August Neidhardt von Gneisenau und Hermann von Boyen sowie die vor allem von Wilhelm von Humboldt vertretenen Reformen im Bildungswesen. Den Zusammenhang der Reformkomplexe machte Gneisenau deutlich, als er meinte, Preußen müsse sich auf „den dreifachen Primat der Waffen, der Wissenschaft und der Verfassung“ gründen.[1] Schwieriger als der Beginn der Reformzeit ist deren Ende zu bestimmen. Insbesondere innen- und verfassungspolitisch markiert das Jahr 1819 einen Einschnitt, als auch in Preußen die Verfassungsbestrebungen eingestellt wurden und restaurative Tendenzen die Oberhand gewannen.

Anlass, Ziele und Grundsätze

Der Zusammenbruch und das Ziel der „Revolution von oben“

Die Gebietsverluste des preußischen Staates zwischen 1801-1807

Die Niederlage von 1806 war nicht nur eine Folge falscher Entscheidungen oder des militärischen Genies Napoleons, sondern hatte auch strukturelle Gründe. Preußen war im 18. Jahrhundert das klassische Land des aufgeklärten Absolutismus in Deutschland. Ständische und andere partikulare Gewalten wie im Westen und Süden gab es kaum noch. Zur Zeit Friedrich II. war Preußen ein zur damaligen Zeit fortschrittliches und reformorientiertes Land. Insbesondere nach dessen Tod begann das absolutistische System zu erstarren und die Reformen blieben stecken oder waren ambivalent. Dies gilt insbesondere für die ausbleibende soziale Modernisierung. Das Allgemeine Landrecht von 1794 zielte zwar auf die Bindung von Staat und staatsbürgerlichen Gesellschaft an Gesetz und Recht ab, fixierte aber gleichzeitig die feudale Ordnung insgesamt. Zwar wurde auf den Staatsdomänen die Leibeigenschaft abgeschafft, nicht aber auf den ostelbischen Großgrund- und Adelsgütern.[2]

Die Reformbedürftigkeit des preußischen Staates war für viele Beobachter und hohe Beamte schon vor dem Krieg von 1806 offensichtlich und findet sich in Denkschriften von Stein und Hardenberg wieder. Friedrich Wilhelm III. entließ Stein daraufhin Anfang 1807 aus seiner Stellung als Finanzminister. Der unmittelbare Anlass für die Reformen war der völlige Zusammenbruch Preußens im Krieg gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt. Im Frieden von Tilsit verlor das Land etwa die Hälfte seiner Fläche. Dazu gehörten vor allem die Gebiete westlich der Elbe und die bei den letzten polnischen Teilungen gewonnenen Territorien. Damit war der altpreußische Staat faktisch untergegangen.

In dieser Situation gewannen die Reformer in der Bürokratie und im Militär die Oberhand gegenüber den konservativen und restaurativen Teilen der Bürokratie sowie dem Adel. Einen erheblichen Einfluss übte die idealistische Philosophie in der Nachfolge von Immanuel Kant auf die Reformer aus. Die Ziele der Reformer definierte die Rigaer Denkschrift von 1807. Formuliert wurde diese im wesentlichen von Barthold Georg Niebuhr, Karl vom Stein zum Altenstein und Heinrich Theodor von Schön für Hardenberg. Sie konstatierten, dass die Revolution den Franzosen einen ganz neuen Schwung gegeben habe. „Alle schlafenden Kräfte wurden geweckt, das Elende und Schwache, veraltete Vorurteile und Gebrechen wurden zerstört.“ Auch Preußen bliebe nichts anderes übrig, als sich tiefgreifend zu reformieren. Der „Wahn, dass man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegen streben könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, dass der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergange, oder der erzwungenen Annahme derselben, entgegensehen muss; Ja selbst die Raub- und Ehr- und Herrschsucht Napoleons und seiner begünstigten Gehilfen ist dieser Gewalt untergeordnet und wird es gegen ihren Willen bleiben. Es lässt sich auch nicht leugnen, dass unerachtet des eisernen Despotismus, womit er regiert, er dennoch in vielen wesentlichen Dingen jene Grundsätze befolgt, wenigstens ihnen dem Schein nach zu huldigen genötigt ist.

Daraus folgerten die Autoren: Also eine Revolution im guten Sinn, gemach hin führend, zu dem großen Zwecke der Veredlung der Menschheit, durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsion von Innen oder Außen – das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip. Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: diese scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeit-Geist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist.“ Mit Blick auf die Niederlage von 1806 ging auch Friedrich Wilhelm III. davon aus, dass Preußen nur bei grundlegenden Reformen in Staat und Gesellschaft weiter bestehen könne.[3]

Der Einzug Napoleons am 27. Oktober 1806 in Berlin machte die Krise des alten preußischen Staates sichtbar (Historiengemälde von Charles Meynier, 1810)

Napoleon selbst war es, der den König veranlasste, Stein wieder zurückzuholen, weil er ihn fälschlicherweise für einen Befürworter seiner Politik hielt. Auch die Reformpartei in Preußen setzten sich für die Berufung Steins ein. Dieser selbst stellte allerdings schwerwiegende Bedingungen, die vom König im Vorfeld die Zustimmung zu wesentlichen Reformschritten verlangte. Dazu gehörte die Abschaffung des königlichen Kabinettssystems. Die Regierung sollte nur durch die Minister erfolgen, die ein unmittelbares Vortragsrecht beim König haben sollten. Während Stein konzeptionell für kollegiale Führungsstrukturen plädierte, verlangte und erhielt er von Friedrich Wilhelm III. die Position eines leitenden Ministers. Direkte Weisungsbefugnis hatte er dabei für die Zivilverwaltung. Gegenüber den anderen Ressorts verfügte Stein über Kontrollrechte. [4] Als Napoleon merkte, dass ihm in Stein ein ernsthafter Gegner erwachsen war, tat er alles, um diesen auszuschalten. Letztlich war Stein gezwungen, Preußen zu verlassen. So hatte Stein nur etwas mehr als ein Jahr bis November 1808 Zeit für seine Reformpolitik.

Die politischen Konzepte von Stein und Hardenberg

Der Historiker Barthold Georg Niebuhr war einer der Verfasser der Denkschrift von Riga, einer der programmatischen Grundlagen der Reformpolitik

Stein und Hardenberg prägten nicht nur nacheinander die politische Richtung, sie standen auch für zwei tendenziell unterschiedliche Ansätze. Anders als die Reformen in den Rheinbundstaaten war Steins Ansatz eher antiaufklärerisch, traditionalistisch und knüpfte an adelige Absolutismuskritik und an englische Vorbilder, insbesondere die Glorious Revolution von 1688, an. Er stand den zentralistischen Bürokratien skeptisch gegenüber und trat für Kollegialität in der Verwaltung und für Dezentralisierung ein. Für ihn waren die Reformen „eine Politik der defensiven Modernisierung, nicht mit, sondern gegen Napoleon.[5]

Hardenberg, der Stein ablöste, war dagegen mehr von den Traditionen der Aufklärung geprägt. Er nahm stärker als Stein die Prinzipien der französischen Revolution und Anregungen der napoleonischen Herrschaftspraxis auf.[6] Im Gegensatz zu Stein war er Etatist. Er strebte eine Stärkung des Staates durch eine straffe und zentral organisierte Verwaltung an.

Bei allen Unterschieden bedeuteten diese nur eine gewisse Akzentverschiebung innerhalb der Reformkräfte. Die Reformen hingen zeitlich, inhaltlich und von ihren Zielen her zusammen, so dass der Begriff Stein-Hardenbergsche Reformen tatsächlich gerechtfertigt ist.

Zentrale Handlungsfelder

Im Kern waren die „organischen Reformen“ eine Synthese aus Altem und Fortschrittlichem. Es galt, die inzwischen wenig effektiven Strukturen des absolutistischen Staates aufzubrechen. Stattdessen sollte ein Staat mit Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger auf der Grundlage von persönlicher Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz entstehen. Letztes Ziel war es, durch eine Erneuerung von Innen den Weg zur Befreiung von der faktischen französischen Oberherrschaft und den Wiederaufstieg zur Großmacht zu ermöglichen.

Wirtschaftspolitisch wurden die Reformer stark von Adam Smith beeinflusst

Ein zentraler Punkt waren die Mitwirkungsmöglichkeiten am Staat durch Selbstverwaltung in Provinzen, Kreisen und Kommunen. Nach der Nassauer Denkschrift Steins war es das Ziel: „Belebung des Gemeingeistes und des Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre.[7] Aus den Untertanen sollten Staatsbürger werden, die die Sache des Staates vertreten sollten. Teilweise waren allerdings die Pflichten von größerer Bedeutung als die Rechte. Außerdem gründeten Steins Vorstellungen von Selbstverwaltung noch auf ständischen Grundlagen. Letztlich kam es zu einem Kompromiss zwischen den Vorstellungen eines modernen Repräsentativsystems und ständischen Aspekten. An die Stelle der alten ständischen Gliederung von Geistlichkeit, Adel und Bürgertum traten nun Adel, Bürgertum und Bauern. Das Wahlrecht sollte ausgeweitet werden und auch freie Bauern umfassen. Dieser letzte Punkt war daher eine Grundlage der Bauernbefreiung.

Daneben war die Agrarpolitik neben den Gewerbereformen auch Teil der Liberalisierung der preußischen Wirtschaft. In diesem Punkt gingen die Reformen in Preußen deutlich weiter als in den Rheinbundstaaten und waren letztlich auch erfolgreicher. Der unmittelbare Anstoß für Veränderungen in diesem Bereich war die Finanzkrise des preußischen Staates nach 1806. Dazu trugen die Kontributionen, Besatzungskosten und sonstigen kriegsbedingten Ausgaben erheblich bei. Insgesamt musste Preußen 120 Millionen Franc an Frankreich zahlen. Die Bauernbefreiung, die Gewerbefreiheit und andere Maßnahmen sollten wirtschaftliche Hemmnisse beseitigen und die freie Konkurrenz im Wirtschaftsleben durchsetzen. Die preußischen Reformer orientierten sich dabei stärker als die süddeutschen am Wirtschaftsliberalismus, wie ihn Adam Smith vertrat und wie ihn Theodor von Schön oder Christian Jakob Kraus propagierten. Dabei stand allerdings nicht die Förderung einer noch kaum vorhandenen Industrie im Vordergrund. Im Mittelpunkt stand stattdessen die teils krisenhafte Lage der Landwirtschaft. Auch die Gewerbefreiheit zielte vor allem auf die Beseitigung von Schranken für die ländliche Gewerbetätigkeit.[8]

Die Reformpolitik im Überblick

Carl Reichsfreiherr vom und zum Stein

In der kurzen Zeit, in der Stein die leitende Position innehatte, wurden die entscheidenden Gesetze erlassen, auch wenn das Organisationsgesetz über die Staatsverwaltung erst 1808 nach seinem Sturz veröffentlicht wurde. In Steins Amtszeit fielen das Oktoberedikt von 1807 zur Bauernbefreiung und die Städteordnung von 1808. Nach einer kurzen Zwischenphase unter Karl vom Stein zum Altenstein übernahm Hardenberg die Führung der Politik. Seit 1810 trug er den Titel eines Staatskanzlers; dieses Amt bekleidete er bis 1822. In seine Amtszeit fallen die Vollendung der Agrarreform mit den Regulierungsedikten von 1811 und 1816 sowie der Ablöseordnung von 1821. Hinzu kamen Gesetze zur Gewerbereform. Dazu gehörten insbesondere das Gewerbesteueredikt von 1810 und das Gewerbepolizeigesetz von 1811. Im Jahr 1818 folgten Zollgesetze zur Aufhebung der Binnenzölle. Zu den gesellschaftlichen Reformen gehörte das Emanzipationsedikt von 1812 für die jüdischen Staatsbürger. Trotz unterschiedlicher Ausgangslage und Zielsetzung gab es vergleichbare Reformen auch in den Rheinbundstaaten. Nur wenige Parallelen haben jedoch die Militär- und Bildungsreformen. Die Reformpolitik in Preußen wurde 1819/20 abgebrochen. Stattdessen gewannen die restaurativen Tendenzen an Bedeutung, ohne dass die Kernpunkte der Reformen zurückgenommen wurden. [9]

Staats- und Verwaltungsreformen

Bürokratie und Staatsführung

Die Reform von Verwaltung und Staatsstruktur hatte für die Reformkräfte besonders hohe Priorität. Einen preußischen Staat hat es vor 1806 eigentlich nicht gegeben, sondern es gab verschiedene Länder, Provinzen und Staaten, die zu einem beträchtlichen Teil nur von der Person des Königs zusammengehalten wurden. Eine einheitliche Verwaltung gab es nicht. Es existierten eine Reihe von teilweise sachbezogener und teilweise provinzbezogener Behörden, deren Koordination nur schwach ausgeprägt war. So fehlte etwa ein fundierter Gesamtüberblick über die Finanzsituation. Es gab zwar Minister, aber neben diesen stand das Kabinett des Königs. Auf den Rat der dort vertretenen persönlichen Berater und Kabinettsräte stützten sich meist die königlichen Entscheidungen.

Mit Beginn der Ära Steins wurde aus den preußischen Staaten ein einheitlicher preußischer Staat. Auch das alte Kabinettsystem wurde beseitigt. An die Stelle der unklar abgegrenzten Oberbehörden wie dem Generaldirektorium trat 1808 ein nach dem Ressortprinzip klar gegliedertes Staatsministerium. Die Minister etwa für Inneres, Äußeres, Finanzen, Justiz, Krieg waren dem König verantwortlich. Die Veränderungen gingen in ihrer Bedeutung klar über die Schaffung einer effektiveren Staatsführung hinaus. Vielmehr wurde seither der preußische Spätabsolutismus durch eine bürokratisch-königliche Doppelherrschaft abgelöst. In dieser hatten die Minister eine starke Stellung. Während der Reformzeit waren sie sogar stärker als der König. Dieser konnte seither nur noch mit seinen Ministern und durch sie regieren. Während der Phase Steins war das Staatsministerium kollegial organisiert, es gab keinen ersten Minister. Dies änderte sich unter Hardenberg, der das Amt eines Staatskanzlers inne hatte und als solcher den Zugang auch der Minister zum König kontrollierte.

Karl August von Hardenberg

Auch unterhalb der Staatsspitze kam es zu weitgehenden Veränderungen. Preußen wurden in Regierungsbezirke eingeteilt. Die Regierungen waren wie die Staatsministerien in Ressorts gegliedert. Im Unterschied zu den Rheinbundstaaten hatten die Regierungspräsidenten keine umfassenden Kompetenzen, sondern sie standen als primus inter pares einem auf Diskussion und Konsensfindung angelegten Regierungskollegium vor.

Getrennt wurden in diesem Zusammenhang auch endgültig Justiz und Verwaltung. Dabei stand den Betroffenen bei Verwaltungsakten zwar ein Einspruchsrecht zu. Darüber wurde allerdings innerhalb der Bürokratie entschieden. Eine juristische Kontrolle der Verwaltung war nicht möglich. Allerdings bedeutete die weiter verstärkte Verschriftlichung, die Niederlegung der Vorgänge in Akten eine weitere Einschränkung informellen Verwaltungshandelns. Die innere Organisation der Verwaltung wurde später Vorbild für andere deutsche Staaten und für Großunternehmen. In der Reformzeit erfuhr das Berufsbeamtentum, wie es seitdem nur wenig verändert in Deutschland besteht, seine wesentliche Ausprägung. Der Staat zahlte den Beamten auf Lebenszeit ein regelmäßiges und auskömmliches Gehalt. Damit wurden diese von Nebeneinkünften unabhängiger und weniger anfällig für Bestechungen. Im Zusammenhang mit der Gewährung einer lebenslangen Absicherung verlangte der Dienstherr aber auch eine unbedingte Treue und Hingabe. Privilegierung und Disziplinierung waren eng verbunden. Es entstanden Laufbahnvorschriften, Dienstpläne, an bestimmte Bildungsabschlüsse gebundene Einstellungsvoraussetzungen und Prüfungsordnungen. Damit verstärkte sich die Konkurrenz unter den Bewerbern. Gleichzeitig wurden Einstellungen von objektiven Kriterien und nicht mehr von der Gunst des Entscheidungsträgers abhängig. Außerdem wurde durch diese Praxis das Leistungsprinzip gestärkt. Dem konnten sich auch die adeligen Anwärter auf höhere Beamtenstellen nicht mehr entziehen. Diese Modernisierung der Verwaltung wurde allerdings in den folgenden Jahrzehnten und vor allem im Vormärz von der liberalen Öffentlichkeit immer mehr als eine alles durchdringende Bürokratisierung kritisiert.[10]

Ein wichtiges Ziel der Reformer war nicht zuletzt die staatliche Durchdringung des gesamten Landes. Insbesondere auf dem Land gab es neben dem Staat bislang noch adelige Partikularrechte, die dies verhinderten. Mit dem Gendarmerie-Edikt von 1812 wurden Landkreise als einheitliche Verwaltungsinstanz sowohl über Dörfer, kleinere Städte und Gutsbezirke geschaffen. Die Kreise wurden anfangs direkt in die staatliche Kontrolle eingebunden. An der Spitze standen nicht mehr adelige Landräte, sondern ernannte Kreisdirektoren mit weitreichenden Vollmachten. Als Vertreter der Bevölkerung kamen sechs Kreisdeputierte hinzu. Die Patrimonialgerichte des Adels wurden durch die staatliche Gerichtsverwaltung ersetzt. Auch die polizeilichen Rechte der Gutsherren wurden durch Einführung der Gendarmerie eingeschränkt.

Die Kreisreform war eine der radikalsten Angriffe der Reformer gegen den Adel. Letztlich ist sie daher auch in weiten Teilen am erbitterten Widerstand der Aristokratie gescheitert. Im Jahr 1816 gelang es ihr durchzusetzen, dass der Landrat, der nun wieder die führende Position einnahm, in der Regel aus den Reihen der eingesessenen Gutsbesitzer kommen sollte. Dies führte letztlich dazu, die Stellung des Adels auf dem Land zu stärken.[11]

Gesamtstaatliche Repräsentation?

Neben dem Staatsministerium plante Stein auch die Einrichtung eines Staatsrates. Mitglieder sollten amtierende und ehemalige Minister sein. Hinzu kamen weitere hohe Beamte, die Prinzen des Königshauses und vom König ernannte Personen. Das Gremium war als eine Art Ersatzparlament mit recht weitgehenden Entscheidungsrechten konzipiert. Als Bastion der Bürokratie sollte der Staatsrat einen Rückfall in den Absolutismus und das Erstarken feudaler Interessen verhindern. Bereits 1808 hat sich gezeigt, dass der Staatsrat nur unzureichend funktionierte. Hardenberg stufte ihn 1810 dann zu einem Beratungsgremium zurück.

Friedrich August Ludwig von der Marwitz war eine der maßgeblichen Personen in der adeligen Opposition

Gewissermaßen analog zu der Einführung der Selbstverwaltung der Städte plante Hardenberg eine gesamtstaatliche Nationalrepräsentation. Auch diese Pläne sahen eine Mischung von ständischen und repräsentativen Elementen vor. Eine erste Versammlung von Notabeln trat 1811 zusammen, eine zweite folgte 1812. Diese setzte sich auf ständischer Grundlage aus achtzehn adeligen Gutsherren, zwölf städtischen Grundbesitzern und neun Bauernvertretern zusammen. Der Grund für die ständische Zusammensetzung war neben eher theoretischen Präferenzen auch ganz praktischer, insbesondere fiskalischer Art. Um die hohen Kriegskontributionen zahlen zu können, war der Staat in hohen Maße auf Kredite des Adels angewiesen. Ausländische Kredite dagegen waren nur dann zu erhalten, wenn die Stände für die Rückzahlung hafteten.

Nach der Einberufung der provisorischen Versammlungen zeigte sich bald, dass die Deputierten keineswegs nur das Gesamtinteresse des Staates im Augen hatten, sondern auch die Interessen ihres Standes durchsetzen wollten. Vor allem der Adel, der durch die Reformen seine Vorrechte in Gefahr sah, versuchte die Versammlungen als Waffe der Opposition gegen die Veränderungen zu nutzen. An ihrer Spitze standen Friedrich August Ludwig von der Marwitz und Friedrich Ludwig Karl Fink von Finkenstein. Deren Widerstand ging so weit, dass die Regierung diese sogar zeitweise verhaften ließ. Der Historiker Reinhart Koselleck hat die These vertreten, dass bei der endgültigen Etablierung einer ständischen Nationalrepräsentation weitere Reformen unmöglich gewesen wären. Am Ende der Reformen standen Kreise und Provinzvertretungen (Provinziallandtage) auf ständischer Grundlage und die vergleichbare städtische Selbstverwaltung. Das Scheitern der Schaffung einer Nationalrepräsentation hatte erhebliche Folgen für die weitere Entwicklung. Während sich die süddeutschen Rheinbundstaaten zu Verfassungsstaaten entwickelten, blieb Preußen bis 1848 ohne ein gesamtstaatliches Parlament.[12]

Städtereform

Gottesdienst für die ersten preußischen Stadtverordneten im Jahr 1808 in der Nicolaikirche in Berlin

Die Städte im ostelbischen Preußen wurden bis in die Reformzeit direkt vom Staat kontrolliert. Wo es dem Namen nach noch Selbstverwaltungsorgane gab, hatten diese kaum Einfluss oder waren sinnentleert. In Teilen knüpfte die Städtereform Steins an diese älteren Traditionen an, indem Sonderrechte beseitigt wurden und alle Städte derselben Ordnung unterworfen wurden. Auch Reste städtischer Resthoheiten etwa im Polizei- und Gerichtswesen wurden aufgehoben.

Im Zentrum der Kommunalreform von 1808[13] stand allerdings das Ideal der Selbstverwaltung. Die Städte sollten nunmehr nicht mehr ausschließlich dem Staat untergeordnet sein, sondern die Bürger sollten über ihre Angelegenheiten bestimmen können. In diesem Bereich kam Steins Ablehnung einer zentralen Bürokratie am deutlichsten zum Ausdruck. Stein hoffte außerdem auf einen Erziehungseffekt. Die Selbstverwaltung sollte das Interesse an öffentlichen Angelegenheiten wecken, was letztlich auch dem Gesamtstaat zugute kommen sollte.

Die Stadtverordneten waren Repräsentanten der gesamten Gemeinde und nicht einer ständischen Gruppe. Das Wahlrecht war dabei an einen vergleichsweise niedrigen Zensus gebunden. Die Stadtverordneten konnten von allen Bürgern mit Besitz von Grund und Boden, Einkommen von mindestens 15 Talern oder gegen eine Gebühr gewählt werden. Zu den wichtigsten Aufgaben der Stadtverordneten gehörte die Wahl des Magistrats. Dieser war das kollegial organisierte Vollzugsorgan der Stadt. An der Spitze der Stadt stand der Bürgermeister, dessen Wahl wie die der Magistratsmitglieder vom Staat bestätigt werden musste. Für die verschiedenen Verwaltungsbereiche wurden Kommissionen eingesetzt. Die zentrale Aufgabe der Selbstverwaltung war die Verantwortung für den städtischen Haushalt. Die Polizei ging als Auftragsverwaltung erneut in den Aufgabenbereich der Kommunen über.

Trotz dieser Ansätze einer Repräsentativverfassung gab es weiterhin ständische Elemente. So blieb die Unterscheidung in unterschiedliche Gruppen bestehen. Die vollen Rechte blieben den Bürgern vorbehalten. Zum Erwerb des Bürgerrechts verpflichtet waren Grundeigentümer und Gewerbetreibende. Grundsätzlich stand das Bürgerrecht auch anderen offen. Dazu zählten die städtischen Unterschichten, die im Allgemeinen Landrecht als Schutzverwandte bezeichnet wurden und die Eximierten. Dies waren im Landrecht Gebildete und meist im Staatsdienst stehende Personen, die vor der Reformzeit nicht der städtischen, sondern der staatlichen Gerichtsbarkeit unterlagen. Von dem Recht zum Erwerb der städtischen Bürgerrechte konnten wegen der damit verbundenen Kosten insbesondere die unteren Schichten und ärmeren Eximierten nur selten Gebrauch machen.

Erst in der revidierten Städteordnung von 1831 gab es Ansätze, an Stelle der Bürgergemeinde die Einwohnergemeinde zu setzen. Insgesamt lag die Selbstverwaltung bis in den Vormärz hinein in den Händen der in den Städten ansässigen Handwerker und Kaufleute. In den großen Städten machten die Vollbürger und ihre Familien etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Trotz aller Grenzen waren die Reformen ein Schritt auf dem Weg zur modernen kommunalen Selbstverwaltung. Der Versuch, vergleichbare Strukturen wie in der Stadt auch in den Landgemeinden einzuführen, scheiterten am Widerstand des Adels.[14]

Steuer- und Zollreform

Wilhelm Anton von Klewiz war an der Ausarbeitung der Verwaltungsreformen beteiligt und amtierte seit 1817 als preußischer Finanzminister

Die Steuerreform war ein zentrales Problem der Politik während der Reformzeit, galt es doch die hohen Kontributionen für Napoleon aufzubringen. Insbesondere die Anfänge der Amtszeit von Hardenbergs waren davon geprägt. Ihm gelang es durch Steuererhöhungen, über Domänenverkäufe bis hin zu Verschuldung und anderen Maßnahmen, den Staatsbankrott abzuwenden und eine Papiergeldinflation zu verhindern. Aus diesen akuten Finanzproblemen erwuchs eine allgemeine Steuerreform. Es ging dabei darum, eine Vereinheitlichung der Steuern über das ganze Staatsgebiet zu erreichen. Außerdem sollte das Steuerrecht durch den Aufbau einiger weniger Hauptsteuern anstelle zahlreicher Einzelsteuern vereinfacht werden. Ein weiterer Punkt war die steuerrechtliche Gleichbehandlung aller Staatsbürger. Dies richtete sich de facto gegen die Privilegien des Adels. Dieses ambitionierte Konzept ließ sich allerdings nur teilweise verwirklichen. Gelungen war es 1819, die Verbrauchssteuern, die zuvor nur für die Städte galten, landesweit einzuführen und dabei auf wenige zu besteuernde Güter zu beschränken. Hinzu kamen Steuern auf einige Luxusgüter. Im gewerblichen Bereich wurde anstelle zahlreicher früherer Abgaben eine progressive gestaffelte Gewerbesteuer eingeführt. Gescheitert war dagegen faktisch eine auch den Adel einbeziehende Grundsteuer. Immerhin gelang es, Einkommens- und Vermögensteuern freilich auf der Basis der Selbsteinschätzung einzuführen. Die Proteste dagegen führten 1820 zur sogenannten Klassensteuer als einer Art Zwischenform zwischen Kopf- und Einkommensteuer. Den Städten blieb die Möglichkeit, als indirekte Steuer an der Mahl- und Schlachtsteuer festzuhalten. Insgesamt blieben die Ergebnisse der Steuerpolitik widersprüchlich. Durch die Konsum- und Klassensteuern wurde keineswegs wie ursprünglich beabsichtigt der Adel, sondern die ärmeren Steuerzahler belastet.[15]

Die Reform der Zollpolitik erfolgte im Kern erst nach dem Ende der napoleonischen Kriege und der territorialen Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress. Preußen hatte seine westlichen Besitzungen wiedergewonnen. Damit entstand nicht nur ein wirtschaftsstruktureller Gegensatz zwischen den gewerblich entwickelten westlichen preußischen Provinzen Rheinland, Westfalen sowie den sächsischen Gebieten auf der einen Seite und den stark agrarisch geprägten ostelbischen Gebieten auf der anderen Seite. Auch die Zollpolitik war höchst unterschiedlich. Während man im altpreußischen Gebiet 1817 noch 57 Zolltarife für etwa 3000 Waren im inneren Verkehr kannte, wurden Binnenzölle in den Westprovinzen seit der französischen Herrschaft so gut wie gar nicht mehr erhoben.

Eine Angleichung war auch aus diesem Grund unerlässlich. In Preußen waren mit dem Zollgesetz von 1818 alle innerstaatlichen Handelsschranken gefallen. Nach außen hin wurde ein nur mäßiger Schutzzoll erhoben. Für den Durchgangsverkehr wurden allerdings hohe Zölle fällig. Dies war ein Kompromiss zwischen den Interessen der am Freihandel interessierten Großgrundbesitzer wie auch der noch schwachen gewerblichen Wirtschaft, die Schutzzölle verlangte. Das preußische Zollgesetz erwies sich als einfach, effizient und wurde konsequent angewandt. Dieses Zollsystem wurde daher für etwa ein halbes Jahrhundert mehr oder weniger zum Vorbild für das Zollsystem in den deutschen Ländern und blieb im Kern bis ins Kaiserreich bestehen. Nicht zuletzt war die preußische Zollpolitik ein wichtiger Faktor für das Entstehen des Deutschen Zollvereins in den 1830er Jahren.[16]

Gesellschafts- und wirtschaftspolitische Reformen

Die Agrarreformen

siehe auch: Preußische Agrarverfassung

Friedrich Wilhelm III. sah sich durch die Krise des Landes gezwungen, die Reformpolitik zu unterstützen

Die Bauernbefreiung war ein Vorgang, der sich in unterschiedlichen Phasen und in verschiedener Weise in ganz Europa abspielte. Dabei spielten verschiedene Gründe eine Rolle. Moralisch war die Leibeigenschaft spätestens Ende des 18. Jahrhunderts anstößig geworden, und ökonomisch wuchs der Zweifel an der Zweckmäßigkeit der bisherigen Agrarverfassung. Deshalb wurden die alten feudalen, aber auch genossenschaftlichen Agrarstrukturen aufgelöst. Die Bauern wurden dabei persönlich frei, sie erhielten das volle Eigentum am Boden, und Dienste und sonstige feudale Verpflichtungen wurden aufgehoben. Die Individualisierung des Bodens führte aber auch zur Auflösung der genossenschaftlichen Bindungen, wie etwa der gemeinsamen Nutzung von Wald und Weiden der Dörfer. Bereits vor 1806 hatte es in Preußen Vorreformen in Teilbereichen gegeben. Dazu zählte die Befreiung der Bauern auf dem königlichen Domänenbesitz seit dem 18. Jahrhundert, die allerdings auch erst 1807 vollständig abgeschlossen werden konnte.

Gegen vergleichbare Veränderung hatte sich der grundherrschaftliche Adel bis dahin erfolgreich gesträubt. Auch gegen die nach 1806 eingeleiteten Reformmaßnahmen gab es erhebliche Widerstände aus dieser mächtigsten Schicht des Landes. Den erstarkenden Kräften des Adels musste der Staat in verschiedenen Punkten entgegenkommen. Dies gilt etwa für die Gesindeordnung von 1810. Diese bedeutete zwar Fortschritte für die Bediensteten im Vergleich mit dem Allgemeinen Landrecht, war aber gemessen an der späteren Gesetzgebung noch konservativ und adelsfreundlich. Der Widerstand des Adels führte auch dazu, dass nicht alle feudalen Rechte beseitigt wurden. Polizei- und Gerichtsrechte wurden zwar staatlich stärker kontrolliert, aber ebenso wenig völlig abgeschafft wie Kirchen- und Schulpatronate, Jagdrechte und Steuervorteile. Auch wurde vom Adel, anders als im Königreich Bayern, kein demütigender Nachweis über ihre adelige Stellung verlangt. Zwar gab es Kompromisse, aber in zentralen Punkten gelang es der adeligen Opposition nicht, die grundlegenden Veränderungen zu blockieren.[17]

Oktoberedikt von 1807

Bis 1807 waren die Bauern durch die Erbuntertänigkeit leibeigen. Sie wurden durch Frondienste und Abgaben belastet. Das Oktoberedikt vom 9. Oktober 1807 stand zeitlich am Beginn der Reformpolitik in Preußen. Es hob alle bislang bestehenden Berufsschranken auf, beseitigte die Erbuntertänigkeit der Bauern und gab den Güterverkehr frei. Die Bauern waren seither persönlich frei. Auch ihre Freizügigkeit wurde durch die Abschaffung der Loskaufsgelder und des Gesindezwangsdienstes hergestellt. In dem Edikt hieß es: „Mit dem Martini-Tage Eintausend Achthundert und Zehn hört alle Gutstätigkeit in Unseren sämtlichen Staaten auf. Nach dem Martini-Tage 1810 gibt es nur freie Leute ...[18] Damit eng verbunden waren das Recht auf freien Eigentumserwerb und die Freiheit der Berufswahl für alle preußischen Bürger. Damit konnten Bauern in die Stadt abwandern, Bürger konnten Landgüter erwerben und Adeligen, die zuvor nur standesgemäßen Tätigkeiten nachgehen konnten, war es nun möglich, bürgerliche Berufe aufzunehmen. Mit der persönlichen Freiheit der Landbevölkerung fiel auch die bisherige Pflicht fort, vom Gutsherren einen Ehekonsens zu erwirken. Die Freiheit der Eheschließung führte zu einer Erhöhung der Geburtenziffer und letztlich zum Wachstum besonders der ländlichen Bevölkerung. Der gegenüber dem Bürgertum abgeschlossene Stand der adeligen Gutsbesitzer wurde tendenziell zu einer Wirtschaftsklasse von bürgerlichen und adeligen Gutsunternehmern. Die Befreiung der Landbevölkerung hatte aber auch gravierende Nachteile. Der freie Güterverkehr beseitigte die bisherigen Einschränkungen des Bauernlegens. Nunmehr konnten die Gutsbesitzer Bauernland, wenn auch staatlich kontrolliert, einziehen. Außerdem entfiel die Pflicht der Gutsherren, für Unterkunft bei Invalidität oder Alter der ehemals gutsuntertänigen Personen aufzukommen.[19]

Regulierungsedikt von 1811

Titelblatt des Oktoberedikts von 1807

Nach der persönlichen Befreiung der Bauern wurde die Herstellung des völligen Eigentums an den bewirtschafteten Flächen und die Abschaffung feudaler Dienstpflichten zum Hauptproblem der Reformer, da dies nach der am Allgemeinen Landrecht orientierten Rechtsauffassung nur in Form von Entschädigungen möglich war. Die Notwendigkeit, die „Revolution von oben“ an die Legalität der Verfahren zu binden, verlangsamte die Reform.

Die Lösung brachte das Regulierungsedikt von 1811. Dieses machte alle Bauern zu Eigentümern der Höfe, welche sie bewirtschafteten. Die Bauern waren anstelle einer meist unmöglichen Ablösung in Geld verpflichtet, die ehemaligen Gutsherren zu entschädigen und die Höfe abzulösen. Sie mussten zwischen der Hälfte und einem Drittel des genutzten Landes abtreten. Um von vornherein das Entstehen von Besitzungen zu verhindern, die nicht genug zum Überleben abwarfen, wurde 1816 die Ablösung im anfänglichen Umfang auf größere Höfe eingeschränkt. Die kleineren Besitzungen blieben damit von der Allodifikation ausgeschlossen. Andere mit der Gutsuntertänigkeit verbundene Lasten wie der Zwangsgesindedienst, Heiratserlaubnisgebühren und ähnliches wurden ohne Gegenleistung abgeschafft. Anders war das mit den Fron- und Naturaldiensten. Deren Wert wurde ermittelt, und die Bauern hatten das fünfundzwanzigfache in Raten an den Gutsherrn zu zahlen, um auch diese Pflichten abzulösen. Im Jahr 1821 folgte dann eine weitere Regelung für die Ablösung des grundherrschaftlichen Eigentums, das in den neupreußischen Gebieten verbreitet war. Dieses Gesetz orientierte sich an Vorbildern aus den Rheinbundstaaten oder übernahm sie in neu gewonnenen Gebieten direkt.

Die Entschädigung in Form der Abgabe von Grundbesitz hatte gegenüber der in den Rheinbundstaaten zweifellos ihre Vorteile, da sie das Verfahren beschleunigte. Allerdings war das Verfahren auch mit Nachteilen für die Bauern verbunden. Allein die 12.000 Rittergüter in Preußen vergrößerten ihren Besitz zusammen um anderthalb Millionen Morgen. Hinzu kam ein Großteil der Allmende, also das bislang von allen nutzbare Land eines Dorfes. Von diesem fiel nur 14% an die Bauern, der Rest ging auch in den Besitz der Gutsbesitzer über. In der Folge verloren viele Kleinbauern ihre Existenzgrundlage und mussten ihr überschuldetes Land ebenfalls an die Grundherren verkaufen. Diese vergrößerten so weiter ihren Besitz, während die ehemaligen Bauern meist Landarbeiter wurden. Einen gewissen Ausgleich für die Bauern bot die Nutzbarmachung brachliegender Flächen, allerdings bedeutete dies die Abdrängung auf schlechtere Böden. Für die fiskalischen Interessen des Staates, die letztlich hinter der Bauernpolitik standen, waren die Maßnahmen äußerst erfolgreich. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche wurde bis 1848 von 7,3 Millionen auf 12,46 Millionen Hektar vergrößert, und die Produktion erhöhte sich um vierzig Prozent.[20]

Soziale Folgen

In den Gebieten östlich der Elbe hatten die Agrarreformen erhebliche soziale Folgen. Zunächst führte die Vergrößerung des Gutslandes dazu, dass sich bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein die Zahl der Rittergutsfamilien stark vergrößerte. Die Zahl der Bauernhöfe blieb in etwa gleich. Neu war jedoch, dass eine breite ländliche Unterschicht entstand. Die Zahl der je nach Region und Rechten unterschiedlich bezeichneten Landarbeiter (Instleute, Gesinde, Tagelöhner) stieg um das zweieinhalbfache. Die Zahl der Kleinbesitzer, regional Kätner genannt, nahmen um das drei- bis vierfache zu. Viele waren auf einen handwerklichen oder sonstigen Nebenerwerb angewiesen.

Allerdings konnten viele Bauern die Entschädigungssumme nicht aufbringen. In diesem Fall mussten sie entweder den Gutsbesitzern bis zur Hälfte ihres Landes als Entschädigung überlassen, wobei der Rest oft nicht mehr genug Ertrag brachte, oder sie mussten sich stark verschulden. Als schließlich durch eine neue Verordnung auch noch die Allmende (das von allen nutzbare Land eines Dorfes) den Großbauern und Gutsherrn als Entschädigung zugesprochen wurde, verloren viele Kleinbauern endgültig ihre Existenzgrundlage und mussten sich als Landarbeiter auf den großen Gütern verdingen. Obwohl die Reformer mit diesem Edikt gute Absichten verfolgten, vergrößerte sich in der Folgezeit die besitzlose ländliche Unterschicht. Letztlich profitierten außer einem begrenzten bäuerlichen Mittelstand die Großgrundbesitzer und adligen Junker von der Reform, die auf diese Weise ihren Landbesitz mehren konnten.[21] Ernst Rudolf Huber wertete dies als „eine der tragischen Ironien der deutschen Verfassungsgeschichte. Es offenbart sich hier die innere Antimonie des bürgerlichen Liberalismus, der die Freiheit des Individuums und seines Eigentums schuf und zugleich vermöge der Eigengesetzlichkeit der Eigentumsfreiheit die Akkumulation der Eigentumsmacht in die Hand weniger Einzelner auslöste.[22]

Gewerbereform und ihre sozialen Folgen

Nicht zuletzt basierend auf den Theorien von Adam Smith, strebten die Reformer im agrarischen wie im gewerblichen Bereich eine Freisetzung aller individueller Kräfte an. Dies erforderte, alle korporativen Einschränkungen, aber auch alle bürokratischen Gängelungen des Wirtschaftslebens in der Tradition des Merkantilismus zu beseitigen. Die Förderung des freien Wettbewerbs bedeutete gleichzeitig den Wegfall aller Begrenzungen der Konkurrenz.

In diesem Sinne wurde 1810 die Gewerbefreiheit eingeführt. Die Aufnahme eines Gewerbes war nur noch abhängig vom Erwerb eines Gewerbescheins. Allerdings gab es einige Ausnahmen etwa für Ärzte und Apotheker, aber auch Gastwirte. Dies bedeutete auch die Beseitigung der Zünfte als öffentlich-rechtliche Institutionen, von Monopolen und sonstigen wirtschaftlichen Privilegien. Die Zünfte wurden zwar nicht aufgelöst, aber die Mitgliedschaft war nunmehr freiwillig. Damit verbunden war das weitgehende Ende der Aufsicht des Staates über die Wirtschaft. An seine Stelle traten das Recht auf freie Berufswahl und der freie Wettbewerb. Die Gewerbereform beseitigte wirtschaftliche Betätigungsschranken und trug dazu bei, dass sich neue gewerbliche Impulse entfalten konnten. Zwischen Stadt und Land gab es nunmehr keine rechtlichen Unterschiede in Hinsicht auf gewerbliche Betätigungsmöglichkeiten mehr. Eine Ausnahme war bis in die 1860er Jahre der Bergbau.

Auch wenn ursprünglich vor allem für die Förderung des Landgewerbes gedacht, war die Gewerbefreiheit eine der zentralen Voraussetzungen des wirtschaftlichen Aufstiegs von Preußen auf Basis der Industrie.

Ähnlich wie der Adel wehrten sich die Stadtbürger gegen die Reformen, wenn auch mit wenig Erfolg. Ihre unmittelbaren Folgen waren widersprüchlich. In den Städten war die nichtzünftige Konkurrenz anfangs vergleichsweise gering. Allerdings begann sich nach einer Übergangszeit die Zahl der nicht in Zünften organisierten Handwerker deutlich zu vermehren. Auf dem Land dagegen nahm die Bedeutung des Handwerks und des sonstigen Gewerbes erheblich zu. Auf längere Sicht führte die Gewerbefreiheit allerdings auch zu Problemen. Die Zahl der Handwerker nahm stärker zu als das Wachstum der übrigen Bevölkerung. Anfangs nahm zunächst die Zahl der Meister zu, die aber aufgrund der starken Konkurrenz oft nur einen geringen Verdienst teilweise am Rande der Armut hatten. Vor allem die Berufe wie Schneider, Schuhmacher, Tischler und Weber gehörten im Vormärz zu den überbesetzten Handwerken. Wie das Wachsen der ländlichen Unterschichten verschärfte dieser Prozess die soziale Frage und war eine der sozialen Ursachen für die Revolution von 1848.[23]

Emanzipationsedikt

Hauptartikel: Preußisches Judenedikt von 1812

Prinzipiell erhielten die Juden die gleichen bürgerlichen Rechte und Pflichten wie die anderen Staatsbürger; ihnen wurde Erwerb von Grundbesitz gestattet, das Besetzen städtischer und Universitätsämter wurde möglich. Nicht zuletzt wurden den Juden ihre kulturellen und religiösen Freiheiten garantiert.

Aber anders als entsprechende Gesetze im Königreich Westphalen wies das preußische Emanzipationsedikt Grenzen auf. Die Juden erhielten vorerst keinen Zugang zu Offiziersrängen, Justiz- und Verwaltungsämtern, unterlagen aber der Wehrpflicht.

Trotz der Grenzen stieß das Edikt schon bald auf Kritik von Emanzipationsgegnern. Dennoch bedeutete es einen großen Schritt hin zur Emanzipation in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit war die Situation der Juden dort rechtlich deutlich besser als in den meisten süd- und östlichen Nachbargebieten. Dies machte Preußen für jüdische Zuwanderung für Jahrzehnte attraktiv.[24][25]

Weitere zentrale Reformfelder

Bildungsreform

Wilhelm von Humboldt

Den Reformen im Bildungsbereich kam in der Konzeption der Reformer eine Schlüsselstellung zu. Alle Reformen setzten einen neuen Bürgertyp voraus, der in der Lage war, selbstverantwortlich zu handeln. Man war überzeugt, dass die Nation gebildet und erzogen werden müsse, damit die neue Gesellschaft überhaupt funktionieren könne. Im Gegensatz etwa zur Staatsreform, die ja noch ständische Elemente einschloss, richteten sich die Bildungsreformen von Anfang an gegen jegliche Form der Standeserziehung. Hauptsächlich konzipiert wurden die Bildungsreformen von Wilhelm von Humboldt, der 1808 die Leitung der Abteilung Kultus und Unterricht (noch angesiedelt im Innenministerium) übernahm. Ähnlich wie auch Stein nur etwa ein Jahr im Amt, gelang es ihm doch in dieser Zeit entscheidende Weichenstellungen vorzunehmen.

Humboldt propagierte ein neuhumanistisches Bildungsideal. Im Unterschied zur Pädagogik der Aufklärung, die Sachkenntnisse und Wissen für das Leben vermitteln wollte, setzte er auf eine zunächst einmal zweckfreie, allgemeine Bildung. Die Beschäftigung mit der Antike und vor allem der alten Sprachen sollten die Selbstentfaltung der geistigen Kräfte anregen. Erst nachdem dies gelungen war, sollten die für die verschiedenen Berufe nötigen Kenntnisse erworben werden. Ein weiterer Unterschied gegenüber der Bildung der Aufklärungszeit war, dass der Neuhumanismus von Humboldt nicht direkt auf den Staat bezogen war. Der Staat hatte nur die Aufgabe, die Erziehung allein um des Menschen willen zu fördern. Dieser Sicht standen aber andere Konzepte entgegen. So forderte Johann Gottlieb Fichte eine Nationalerziehung, die letztlich das Recht haben sollte, den Einzelnen zu seinem „Heil“ zu zwingen. Tatsächlich wurde der Schulzwang nun konsequent durchgesetzt.

An die Stelle der Vielfalt der alten kirchlichen, privaten, städtischen oder korporativen Einrichtungen trat nunmehr die staatliche Schule, gegliedert in Volksschule, Gymnasium und Universität. Der Staat hatte die Aufsicht über alle Schulen und bestimmte über das Prüfungswesen. Staatlich anerkannte Leistungskriterien wurden geschaffen als Voraussetzung für den Eintritt in den Staatsdienst: Es sollte auf Bildung und Leistung ankommen, nicht mehr auf Herkunft und Stand.

Die Leistungsfähigkeit der Volksschule wurde durch eine bessere Bezahlung der Lehrer und ihre Ausbildung in Lehrerseminaren verbessert. Trotz des verstärkten staatlichen Einflusses behielten die Geistlichen die Schulinspektion. Für die höhere Schulbildung war fortan das neu konzipierte humanistische Gymnasium zuständig. Der erfolgreiche Abschluss berechtigte zum Universitätsstudium. Daneben entstanden Realschulen, und es hielten sich einige Kadettenanstalten.

An der Spitze stand die reformierte Universität. Geradezu als Modell wurde die Universität Berlin gegründet. Hier galt das Ideal der Freiheit von Forschung und Lehre. Dabei kam der Forschung die erste Stelle zu. Die Studenten sollten durch Teilnahme an der Forschung selbständiges Denken und wissenschaftliches Arbeiten lernen.

Die eigentlich antiständisch angelegte Bildungsreformen wirkten sich in der Praxis abschließend gegenüber den unteren Schichten aus. Gründe waren das elitäre philologische Bildungsideal, aber auch die mit beträchtlichen Kosten verbundene lange Bildungsphase. Allerdings hat es in einem begrenzten Umfang durchaus sozialen Aufstieg durch Bildung gegeben.[26]

Heeresreform

Hauptartikel: Preußische Heeresreform, Preußische Armee

Militär-Reorganisationskommission, Königsberg 1807

Da, anders als in den Rheinbundstaaten, die Reformpolitik von Anfang an auch klar gegen die französische Suprematie gerichtet war, spielten die Militärreformen eine weit größere Bedeutung als in den süddeutschen Reformstaaten. Innerhalb des preußischen Militärs entstand nach der Niederlage von 1806 eine Gruppe von Offizieren, die auf Veränderungen drängten. Dazu gehörten Scharnhorst, Gneisenau, Boyen, Grolman und Clausewitz. Nach dem Frieden von Tilsit wurde Gerhard von Scharnhorst dann im Juli 1807 zum Chef des Kriegsdepartements (Kriegsministerium), zum Chef des Generalstabes und zum Vorsitzenden der Militär-Reorganisationskommision ernannt. In enger Abstimmung mit Stein gelang es Scharnhorst, den widerstrebenden König von der Notwendigkeit der Veränderungen zu überzeugen.

Die Erfahrungen von 1806 hatten gezeigt, dass die Altpreußische Heeresorganisation den Franzosen nicht mehr gewachsen war. Sie war gegenüber der französischen Schützentaktik zu unbeweglich, ihre Offiziere behandelten die Soldaten als willenlose Objekte, die bei Vergehen mit harten Strafen bis hin zum Spießrutenlaufen zu rechnen hatten. Dem stand die französische Bürger- und Wehrpflichtarmee gegenüber. Ein Aspekt der Reformen war es, die teilweise bestehenden Schranken zwischen Armee und Gesellschaft zu beseitigen, so hoffte man die Armee auf den Patriotismus der Staatsbürger aufbauen zu können. Daher wurde damit begonnen, die Würde der einfachen Soldaten zu verbessern, indem die Soldatengesetze dem bürgerlichen Rechtsempfinden angepasst wurden. Das drakonische Strafsystem und insbesondere die Prügelstrafe wurden weitgehend abgeschafft. Das Offizierskorps wurde reformiert. Eine nicht unbeträchtliche Zahl ungeeigneter höherer und niedriger Offiziere wurde entlassen. Das Adelsprivileg wurde abgeschafft, damit stand die Offizierslaufbahn auch Bürgerlichen grundsätzlich offen.

Insbesondere dies stieß auf erheblichen Unwillen des Adels wie etwa von Ludwig Yorck von Wartenburg. In der Praxis zeigte sich allerdings bald, durch eine Art Kooptionsrecht der Offiziere, die in der Regel adelige Fähnriche bevorzugten, dass der bürgerliche Einfluss gering blieb.

Innerhalb des Offizierskorps sollten bei den höheren Rängen nicht mehr das Dienstalter, sondern die Leistung den Aufstieg bestimmen. Die Preußische Kriegsakademie sollte eine bessere Ausbildung der Offiziere gewährleisten. Im engeren militärischen Bereich wurden nach französischen Vorbild Jäger- und Schützeneinheiten gebildet. Wie in der zivilen Verwaltung wurde die Militärorganisation gestrafft. An die Stelle einer Vielzahl von oberen Behörden trat 1809 das Kriegsministerium mit dem Generalstab.

Die zentrale Reform war die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Damit sollten die Ungerechtigkeiten des bisher geltenden Wehrersatzsystems und die ständischen Unterschiede aufgehoben werden. Zwar wurden Pläne gemacht, die Begrenzung der Truppenstärke auf 42.000 Mann durch den Frieden von Tilsit mit dem Krümpersystem zu umgehen, gleichwohl kam es zunächst nicht zur Umsetzung der Wehrpflicht. Der König zögerte und aus dem Adel und Offizierskorps gab es Widerstände. Auch das Bürgertum blieb skeptisch. Erst mit dem Beginn der Befreiungskriege konnten die Reformer die Wehrpflicht 1813 durchsetzen. Endgültig gesichert wurde diese allerdings erst 1814 in einem allgemeinen Wehrgesetz. Neben den Linientruppen wurde nunmehr auch die Landwehr zur Heimatverteidigung und als Reservetruppe aufgestellt. Die Landwehr war organisatorisch selbständig, es gab eigene Einheiten und Offiziere. Ausschüsse in den Kreisen organisierten die Truppe und hier konnten Bürgerliche zu Offizieren aufsteigen. Hier schien die Idee der Reformer, Volk und Armee zu verbinden, am deutlichsten gelungen zu sein.[27]

Die Reformen in der Historiographie

Heinrich von Treitschke hat die positive Beurteilung der preußischen Reformen im 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein stark mitgeprägt
Preußische Reformer am Reiterstandbild Friedrich Wilhelms, Kölner Heumarkt

In der Geschichtsschreibung des späten 19. Jahrhunderts wurden die preußischen Reformen und die „Revolution von oben“ etwa von Heinrich von Treitschke zur direkten Vorgeschichte der kleindeutschen Nationalstaatsgründung erklärt. Der Modellcharakter der Reformen für die spätere Entwicklung wurde auch von Friedrich Meinecke geteilt. Lange Zeit wurde die Reformzeit, angelehnt an Leopold von Ranke, vor allem als die Geschichte „großer Männer“ geschrieben. Davon zeugen zahlreiche biographische Arbeiten zu den Protagonisten der Reform.

So schrieb Hans Delbrück über Gneisenau oder Meinecke über Boyen. Anfangs vor allem auf die militärischen Reformen ausgerichtet, begann mit der Biographie von Max Lehmann die Erforschung von Person und Wirken Steins. Hardenberg hat dagegen nur vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit der Forschung erregt. Bei allen Unterschieden wird von der Forschung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine grundsätzliche Kontinuität zwischen den Hauptakteuren und an einer Einheit der Stein-Hardenbergschen Reformen festgehalten.[28]

Von einigen Autoren wie Otto Hintze wurde auf die Reformansätze vor 1806 hingewiesen. Dazu gehören etwa das Allgemeine Landrecht und andere Maßnahmen. Eine derartige Kontinuitätslinie würde die These der Reformer von den organischen Reformen im Rahmen der bestehenden Ordnung bestätigen. Thomas Nipperdey resümierte als Abschluss der Debatte, dass es vor dem Zusammenbruch von 1806 zwar Reformansätze gegeben habe, aber es habe an Energie zu ihrer Umsetzung, wie an einem inneren Zusammenhalt gefehlt.[29] In Bezug auf die Agrarreformen lösten die Arbeiten von Georg Friedrich Knapp seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Kontroverse aus. Bei Knapp überwog die Kritik an der Reformpolitik, die letztlich den adeligen und nicht den bäuerlichen Interessen entsprochen hätte. Dabei spielte auch die Kritik am Einfluss des Wirtschaftsliberalismus eines Adam Smith eine Rolle. Die Forschung des letzten Jahrhunderts hat gezeigt, dass die pauschale Kritik so nicht aufrechtzuerhalten ist. Immerhin nahmen die Bauernstellen zu, wenngleich diese meist auf schlechteren, neu erschlossenen Böden lagen.[30]

Ähnlich differenziert wird heute auch der Erfolg der Gewerbereformen beurteilt. Sie waren nicht unmittelbar Ursache für Not und Elend der Handwerker, da die Gesetzgebung letztlich einen nur geringen Einfluss auf die Entwicklung hatte. Barbara Vogel hat versucht, eine Gesamtkonzeption agrarischer und gewerblicher Reformansätze als eine „bürokratische Modernisierungsstrategie“ zu beschreiben.[31] Mit Blick auf die industrielle Entwicklung zeichnet sich die Einschätzung ab, dass die Reformpolitik zwar primär auf die Förderung des ländlichen Gewerbes in Altpreußen ausgerichtet war, letztlich aber doch den Durchbruch der industriellen Revolution erleichtert hat.

Den Versuch einer Gesamtinterpretation der Reformpolitik mit der Perspektive auf die Revolution von 1848 machte Reinhart Koselleck mit seinem Buch „Preußen zwischen Reform und Revolution“. Er betonte dabei drei Teilprozesse. Das allgemeine Landrecht versuchte zwar bereits auf die sozialen Probleme zu reagieren, hielt aber noch an ständischen Elementen fest. Die Entstehung eines Verwaltungsstaats während der Reformzeit und den Behördenausbau zwischen 1815 und 1825 betrachtete er als eine verfassungspolitische Vorleistung. In den folgenden Jahrzehnten entzog sich dann aber die soziale und politische Bewegung den bürokratischen Kontrollen. Die zentrale These war, dass nach dem Ende der Reformzeit die Übereinstimmung zwischen der höheren Beamtenschaft und dem nicht beamteten Bildungsbürgertum zerbrach. Zumindest in der Reformzeit hätte die Bürokratie gewissermaßen gegen die Einzelinteressen das übergeordnete Allgemeininteresse vertreten. Ein Grund für die Nichteinführung einer Nationalrepräsentation war danach die Befürchtung, dass die Reformpolitik gestoppt werden würde.[32]

Teilweise bereits früher, wie von Hans Rosenberg und später von Vertretern der historischen Sozialwissenschaft, wurde das Ende der Verfassungsentwicklung in Preußen als eine Ursache für das Scheitern der Demokratisierung in Preußen und letztlich für den sogenannten deutschen Sonderweg mit verantwortlich gemacht. Hans-Jürgen Puhle hielt die preußische Ordnung gar für „langfristig auf Untergang programmiert“[33]. Andere, die wie Thomas Nipperdey eher historistisch orientiert waren, wiesen auf den Unterschied zwischen Intentionen und unbeabsichtigten Folgen hin.

In den letzten Jahrzehnten verloren die preußischen Reformen von 1807 bis 1815 etwas von ihrer zentralen Position in der Geschichte des 19. Jahrhunderts. Dazu trug bei, dass die Reformen der süddeutschen Rheinbundstaaten von vielen Historikern als ebenbürtig angesehen werden. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass die gewerblich und gesellschaftlich dynamischen Regionen Preußens bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft entweder direkt oder indirekt zum französischen Machtbereich gehört hatten.[34]

Verweise

Einzelnachweise

  1. zit. nach Nipperdey, S. 51.
  2. Nipperdey, S. 33.
  3. Wehler, S.401; Auszüge der Denkschrift von Riga.
  4. Burg, Karl Freiherr vom und zum Stein, Kap. 5
  5. zit nach Fehrenbach, S. 109.
  6. Büsch: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2, S. 22.
  7. zit. nach Fehrenbach, S. 112.
  8. Fehrenbach, S. 109f., S. 112, S. 115f.; Nipperdey, S. 34, S. 35f.
  9. Fehrenbach, S. 110f.; Nipperdey, S. 35.
  10. Manfred Botzenhart: Reform, Restauration und Krise. Deutschland 1789-1847. Frankfurt, 1985. S.47f., Publikandum zur veränderten Verfassung der obersten Staatsbehörden von 1808.
  11. Nipperdey, S.36–38.
  12. Fehrenbach, S. 113f.; Nipperdey, S. 37.
  13. Städteordnung von 1808.
  14. Fehrenbach, S. 113; Nipperdey, S. 38–40.
  15. Nipperdey, S. 50.
  16. Wolfram Fischer: Der deutsche Zollverein. Fallstudie einer Zollunion. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Göttingen, 1972. ISBN 3-525-35951-9. S. 119; Wehler, S. 442–445.
  17. Nipperdey, S.40-43, S.47f., Wehler, S. 406.
  18. Edikt den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums so wie die persönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend; Fehrenbach, S. 116.
  19. Fehrenbach, S. 116f.
  20. Fehrenbach, S. 117f.
  21. Fehrenbach, S. 118f.
  22. zit. nach Fehrenbach, S. 119.
  23. Fehrenbach, S. 119; Nipperdey, S. 49; Wehler, S.429–432.
  24. Wehler, S.408f., Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate.
  25. Hans-Werner Hahn: Judenemanzipation in der Reformzeit.
  26. Fehrenbach, S. 120–122.
  27. Nipperdey, S.50–56.
  28. Fehrenbach, S. 235–239.
  29. Nipperdey, S. 33.
  30. Fehrenbach, 239–241.
  31. etwa: Barbara Vogel: Die "allgemeine Gewerbefreiheit" als bürokratische Modernisierungsstrategie in Preußen: eine Problemskizze zur Reformpolitik Hardenbergs. In: Industrielle Gesellschaft und politisches System. Bonn, 1978, S.59–78.
  32. Reinhart Koselleck: Preussen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Stuttgart, 1967.
  33. Hans-Jürgen Puhle: Preußen: Entwicklung und Fehlentwicklung, in: Hans-Jürgen Puhle, Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Preußen im Rückblick. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1980 (=GuG Sonderheft 6) S. 15, hier zitiert nach Dieter Langewiesche: Europa zwischen Revolution und Restauration 1815-1849. 4. Auflage München 1994: Oldenbourg Verlag (=OGG Band 13), S. 123.
  34. Fehrenbach, S. 241–246.

Literatur

  • Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Regime zum Wiener Kongress. München: Oldenbourg, 2001. ISBN 3-486-49754-5
  • Werner Frotscher, Bodo Pieroth: Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., München 2005, § 7.
  • Walther Hubatsch: Die Stein-Hardenbergschen Reformen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989 ISBN 3-534-05357-5
  • Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München, 1998 ISBN 3-406-44038-X.
  • Paul Nolte: Staatsbildung und Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800-1820. Frankfurt/New York: Campus-Verlag, 1990 ISBN 3-593-34292-8
  • Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band: Vom Feudalismus des alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära. 1700-1815. München: C.H. Beck, 1987 ISBN 3-406-32261-1

Weblinks