Temperamentenlehre

Die vier Apostel von Albrecht Dürer, eine Darstellung der vier Temperamente: Johannes (Sanguiniker), Petrus (Phlegmatiker), Markus (Choleriker) und Paulus (Melancholiker)

Die Temperamentenlehre ist ein von der antiken Humoralpathologie abgeleitetes Persönlichkeitsmodell, das Menschen nach ihrer Grundwesensart kategorisiert. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Neubetrachtung konnte eine Überführung des klassischen Modells in den Kanon moderner persönlichkeitspsychologischer Modelle vorgenommen werden, womit innerhalb und außerhalb der Waldorfpädagogik die Temperamentenlehre als historisch wichtige Grundlage neu wertgeschätzt werden konnte.[1] Anwendung findet sie unter anderem in der Waldorfpädagogik und in der Populärpsychologie.[2]

Die Lehre zeichnet sich besonders durch ihre Einteilung des Gesamttemperamentes des Menschen in vier grundlegende Temperamente aus, die wiederum auf die Gesamtfülle der menschlichen Konstitution (physisch und psychisch), aber auch auf die Gesamtfülle der den Menschen umgebenden Welt bezogen werden.

Antike und Mittelalter

Ursprünge der Lehre

Die Temperamentenlehre geht auf die Vier-Elemente-Lehre und die Humoralpathologie (Viersäftelehre) zurück, die Hippokrates von Kos (griech. Arzt, ca. 460–370 v. Chr.) zugeschrieben wird und besonders deutlich in der Schrift „Die Natur des Menschen“ dargestellt wird, welche vermutlich von Polybos, dem Schwiegersohn und Schüler des Hippokrates, verfasst wurde.

Entwicklung der Temperamentenlehre

Die Verknüpfung der Viersäftelehre mit der Lehre von den vier Temperamenten erfolgte durch Galenos von Pergamon, der den vier Flüssigkeiten („humores“) des Körpers je ein Temperament zuordnete.[3] Je nach Vorherrschaft einer dieser vier Flüssigkeiten bilde sich das damit verbundene Temperament besonders hervor. Galen griff dabei eine Auffassung auf, die in gewissen Bereichen, z. B. der Melancholie, bereits zuvor gebildet worden war und systematisierte sie:

Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker und Sanguiniker
  • Blut (lat. sanguis, gr. αἷμα, háima): Sanguiniker (αἱματώδης – heiter, aktiv)
  • Schleim (gr. φλέγμα, phlégma): Phlegmatiker (φλεγματικός – passiv, schwerfällig)
  • Schwarze Gallenflüssigkeit (gr. μέλαινα χολή, mélaina cholḗ): Melancholiker (μελαγχολικός – traurig, nachdenklich)
  • Gelbe Gallenflüssigkeit (gr. χολή, cholḗ): Choleriker (χολερικός – reizbar und erregbar)

Im Mittelalter wurde die Temperamentenlehre Galens noch durch die Zuordnung von Elementen, Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Sternzeichen und Tonarten ergänzt.

Traditionelle Bezeichnungen Tiere auch ement und Sternzeichenl Andere Gleichsetzungen
Phlegmatiker Ochse Wasser:

Krebs

Steinbock

Fische

Winter, Nacht, Babyalter, Greisenalter
Sanguiniker Löwe Hase Luft:

Zwilling

Waage

Wassermann

Frühling, Morgen, Kindheit
Choleriker Katze Feuer:

Widder

Löwe

Schütze

Sommer, Mittag, Adoleszenz
Melancholiker Hirsch Elch de:

Jungfrau

Stier

Steinbock

Herbst, Abend, Erwachsenenalter
Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker und Phlegmatiker

In der Kunstgeschichte, vor allem durch Albrecht Dürer verarbeitet und dargestellt (wie im Bild "Melencolia I von 1514"), wurde immer wieder in der Darstellung der griechischen und römischen Mythologie auch eine Beziehung zwischen den Temperamenten und den vier Flüssen des Hades hergestellt.

Das Gleichnis mit dem Stein

Die vier Temperamente lassen sich sehr einfach an einem simplen Szenario verdeutlichen. Man stelle sich vor, ein großer Stein versperre einem Menschen seinen Weg.

  • Der Sanguiniker wird heiter in seiner unbetrübten Art über den Stein hinweg hüpfen oder klettern.
  • Der Choleriker wird des unerwarteten Hindernisses wegen in Rage geraten und womöglich versuchen, den Stein mit einem Kraftakt aus dem Weg zu räumen.[4]
  • Der Phlegmatiker geht Konflikten mit unnötig großem Aufwand aus dem Weg, er wird einen großen Bogen um den Stein herum machen.
  • Der Melancholiker wird beim Anblick des Steins seine Reise in Frage stellen und sich traurig auf den Stein setzen, um nachzudenken und sein Vorhaben zu reflektieren.

18. bis 20. Jahrhundert

Viergeteiltes Bühnenbild zu Nestroys "Das Haus der vier Temperamente", Kupferstich von Andreas Geiger, 1838.

Johann August Unzer postulierte, beruhend auf den vier traditionellen Temperamenten 1746 einige „vermischte“ Temperamente, beispielsweise bei „melancholischen Cholerikern“ oder „cholerischen Melancholikern“.[5]

Johann Nepomuk Nestroy schrieb 1837 die Posse Das Haus der Temperamente, in der die Bühne vier Wohnungen zeigt, die von vier Familien mit den unterschiedlichen Temperamenten bewohnt werden.

Die Temperamentenlehre wurde viele Jahrhunderte akzeptiert und inspirierte moderne Persönlichkeitspsychologen wie Hans Eysenck (1916–1997), der in seinem Persönlichkeitszirkel die Eigenschaft „instabil“ zwischen melancholisch und cholerisch, „extrovertiert“ zwischen cholerisch und sanguinisch, „stabil“ zwischen sanguinisch und phlegmatisch sowie „introvertiert“ zwischen phlegmatisch und melancholisch einordnete.

Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie und Anreger für die Gründung der Waldorfschule, entwickelte, neben einer Vielzahl die Pädagogik betreffenden Thesen, eine Variante der Temperamentenlehre. Diese teilt wie ihre griechische Vorläuferin das Gesamttemperament des Menschen in vier Grundtypen ein, wobei es große Einseitigkeiten einer oder mehrerer Temperamente im jeweiligen Individuum geben kann, die vier Temperamente also in unterschiedlicher Stärke und Ausprägung im jeweiligen Individuum vorkommen.

Als Beispiel für die Eigenschaften und Bedeutungen eines ganz bestimmten Temperamentes können nach Steiner daher nur stark einseitig „temperierte“ Personen herangezogen werden, die sodann gewissen Umständen des Lebens mit großen Schwierigkeiten, anderen Umständen wiederum mit großen Stärken begegnen können.

1901/02 schuf der dänische Komponist Carl Nielsen seine 2. Sinfonie mit dem Titel „Die vier Temperamente“.

Commons: Die vier Temperamente – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Vgl. Christian Rittelmeyer: Die Temperamente in der Waldorfpädagogik. Ein Modell zur Überprüfung ihrer Wissenschaftlichkeit in: Harm Paschen (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Zugänge zur Waldorfpädagogik– Wiesbaden 2010.
  2. Heiner Ullrich: Anthroposophie – zwischen Mythos und Wissenschaft. Eine Untersuchung zur Temperamentenlehre Rudolf Steiners. In: Pädagogische Rundschau. Nr. 38, 1984, ISSN 0030-9273, S. 443–471.
  3. J. van Wageningen: Die Namen der vier Temperamente. In: Janus, Band 23, 1918, S. 48–55.
  4. Temperamente und innere Sekretion. In: Alfred Adler: Menschenkenntnis, 1927, Online-Version, letzter Aufruf am 12. September 2011.
  5. Gernot Huppmann: Anatomie eines Bestseller. Johann Unzers Wochenschrift „Der Arzt“ (1759–1764) - ein nachgereichter Rezensionsessay - In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 23, 2004, S. 539–555; hier: S. 546.