Elias Canetti

Elias Canetti (* 25. Juli 1905 in Russe/Bulgarien; † 14. August 1994 in Zürich) war ein Schriftsteller deutscher Sprache und Literatur-Nobelpreisträger 1981.

Canetti, der älteste Sohn einer wohlhabenden spaniolisch-jüdischen Kaufmannsfamilie, verbrachte seine Kinderjahre in Bulgarien und England. Nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahr 1912 führte er mit Mutter und Geschwistern ein wenig sesshaftes Leben in verschiedenen deutschsprachigen Ländern: in Österreich, der Schweiz und Deutschland.

Von 1924 an lebte er in Wien, bis der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland ihn zwang, 1938 mit seiner Frau Veza nach England zu emigrieren, wo er auch nach dem Krieg blieb und die englische Staatsbürgerschaft erwarb. In den siebziger Jahren lebte er zunehmend, in den achtziger Jahren bald ausschließlich in der Schweiz. Canetti starb 1994 in Zürich und wurde dort auf dem Friedhof Fluntern beigesetzt.

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Das Grabmal in Zürich

Als Schriftsteller ist Canetti nicht leicht in Kategorien oder literarische Strömungen einzuordnen. Sein Werk ist außerordentlich vielseitig, schon was die verwendeten literarischen Gattungen betrifft. Er hat unter anderem einen Roman veröffentlicht (Die Blendung), drei Dramen, eine anthropologische Studie (Masse und Macht), aphoristische Aufzeichnungen und eine mehrbändige Autobiografie. Da er sehr zögerlich veröffentlicht hat, wurde er nur allmählich einer größeren Öffentlichkeit bekannt, besonders im deutschen Sprachraum. Hier empfing er seit den sechziger Jahren zahlreiche Preise und Auszeichnungen (so etwa 1969 den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und 1972 den Georg-Büchner-Preis), schließlich erhielt er 1981 den Nobelpreis für Literatur.

Bei aller Verschiedenheit der literarischen Gattungen, die er benutzt, ist Canettis Werk thematisch recht homogen. Er war von „Todesfeindschaft“ erfüllt und suchte alle Auswirkungen, die das Bewusstsein des Todes für das Leben des Menschen hat, zu erforschen – daher sein Interesse für die verschiedenen Religionen und Glaubensformen. Sein Interesse an Massenphänomenen und Erscheinungsformen der Macht entsprang den prägenden Ereignissen des 20. Jahrhunderts: den Weltkriegen und dem Nationalsozialismus. Bei aller Skepsis ist Canetti jedoch nicht von pessimistischer Grundhaltung, vielmehr sieht er es als den Beruf des Dichters (so der Titel eines Essays von 1976), Raum für „Hoffnung“ und Wege aus dem „Chaos“ zu schaffen.


Leben

Kindheit und Jugend

Elias Canetti wurde am 25. Juli 1905 in Rustschuk (heute: Russe) in Bulgarien geboren. Seine Eltern Jacques und Mathilde Canetti entstammten zwei wohlhabenden spaniolisch-jüdischen Kaufmannsfamilien, die über die Türkei nach Bulgarien gekommen waren. Als sich 1911 die Möglichkeit ergab, sich bei einem in England tätigen Verwandten geschäftlich zu beteiligen, nutzte die Familie die Gelegenheit, nach Manchester zu ziehen. Die insgesamt nur 6 Jahre, die Canetti in Bulgarien verbrachte, hat er später im ersten Band seiner Lebensgeschichte eindrücklich beschrieben. Aber auch in England blieb er zunächst nicht lange, denn im Oktober 1912 starb völlig überraschend der noch ganz junge und scheinbar kerngesunde Vater, möglicherweise an einem Herzinfarkt – eine Erfahrung, die sicher wesentlichen Einfluss auf Canettis spätere „Todfeindschaft“ haben sollte. Die Mutter entschloss sich daraufhin, mit Elias und seinen beiden jüngeren Brüdern nach Wien zu ziehen. Erst jetzt erhielt Elias, dessen Muttersprache das altspanische Ladino war und der in England Englisch und etwas Französisch gelernt hatte, in einer Art pädagogischer Rosskur Deutschunterricht von der Mutter. Teils wegen des ausgebrochenen Ersten Weltkrieges, teils wegen einer andauernden Krankheit der Mutter wechselte die Familie in den folgenden Jahren noch mehrfach den Wohnsitz, und Canetti lebte jeweils einige Jahre in Zürich (1916-1921) und in Frankfurt am Main (1921-1924), wo er an der Wöhlerschule das Abitur ablegte.

In den Jahren nach dem Tod des geliebten Vaters entwickelte Canetti eine sehr enge und eifersüchtige Beziehung zur Mutter, einer sehr stolzen und selbständigen Frau mit leidenschaftlichem Interesse für Theater und Literatur. Mit den Leseabenden, bei denen Mutter und Sohn gemeinsam klassische Dramen lasen, hat sie dem Wunsch Canettis, später selbst Dichter zu werden, lange Zeit Nahrung gegeben. Später sah sie diese Entwicklung zunehmend mit Besorgnis und suchte den Sohn zu einem praktischen Beruf zu drängen – der Umzug aus der idyllischen Schweiz ins inflationsgebeutelte Deutschland war ihr Versuch, Canetti auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Erfolgreich war diese Strategie nur bedingt: Canetti entfremdete sich in den 1920er Jahren zunehmend von der Mutter und brach schließlich ganz mit ihr.

Wien (1924-1938)

Während Canettis Mutter und Brüder sich in Frankreich niederließen, zog er 1924 wieder nach Wien und studierte dort Chemie, ohne echtes Interesse für das Fach (Promotion 1929). Nebenher ging er seinen eigentlichen Interessen nach, die literarische Dinge und ein breites Spektrum an philosophischen Themen betrafen. Gleich 1924 lernte Canetti seine spätere Freundin (und ab 1934 Ehefrau) Veza kennen, die seine Leidenschaft für Literatur teilte (und später eine eigene schriftstellerische Tätigkeit begann) und Canetti in seinen hochfliegenden schriftstellerischen Plänen ermutigte. Diese beschränkten sich für die Zeit seines Studiums jedoch auf Absichtserklärungen und Fingerübungen.

Canetti besuchte in dieser Zeit die Vorlesungen des Satirikers Karl Kraus, den er (wie viele seiner Zeitgenossen) geradezu fanatisch verehrte. Außerdem sammelte er Material für sein Projekt einer Studie über das Phänomen der Masse, das ihm von Wissenschaftlern wie Le Bon oder Sigmund Freud nicht hinreichend erfasst zu sein schien. Persönliche Erlebnisse wie Demonstrationen in Frankfurt (bei der Ermordung Rathenaus 1922) und Wien (Julirevolte am 15. Juli 1927) bestärkten ihn in dieser Absicht.

Canetti weitete allmählich seinen Bekanntenkreis aus, wobei er jedoch politisch wie literarisch konservative Kreise eher mied. Er hatte Kontakt zu Vertretern der politischen Linken (Ernst Fischer, Ruth von Mayenburg), mit der er sympathisierte, ohne sich aber politisch engagieren zu wollen. 1928 verbrachte er den Sommer in Berlin, wo er für den Malik-Verlag arbeitete. Dieser Aufenthalt wurde ihm sehr wichtig, weil er ihn nicht nur in Kontakt mit der dortigen Künstler-Szene brachte (John Heartfield, Wieland Herzfelde, George Grosz, Bertolt Brecht, außerdem Isaak Babel und Ludwig Hardt), sondern weil er durch das im Vergleich zum gemütlichen Wien wie ein „Irrenhaus“ erscheinende Berlin auch zu seinem Roman Die Blendung angeregt wurde, den er 1930/31 schrieb. Ein Jahr darauf entstand das Drama Hochzeit, ein weiteres Jahr später Die Komödie der Eitelkeit. Alle drei Werke blieben zunächst unveröffentlicht, aber durch Lesungen aus dem Roman und den Dramen lernte Canetti zahlreiche Künstler und Intellektuelle kennen, darunter den Bildhauer Fritz Wotruba, der einer seiner engsten Freunde wurde, die Künstlerin Anna Mahler (in die Canetti sich unglücklich verliebte), Abraham Sonne (später Avraham Ben Yitzhak), den Schriftsteller Hermann Broch, ferner Alban Berg, Hermann Scherchen und Robert Musil. Seine zunehmende Bekanntheit ermöglichte es Canetti schließlich sogar, die Blendung zu veröffentlichen, doch seine weitere schriftstellerische Laufbahn (wie auch die seiner Frau) konnte im zunehmend judenfeindlichen Klima der dreißiger Jahre nicht vorankommen, und nach dem Anschluss Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland 1938 musste sich das staatenlose Ehepaar um eine Ausreisemöglichkeit kümmern.

London (1939-1971)

Die Canettis emigrierten zur Jahreswende 1938/39 über Frankreich nach England, wo sie sich unter häufig wechselnden Adressen in oder bei London niederließen, jahrelang meist in getrennten Wohnungen. Sie hatten bereits in Wien keine besonders bürgerlich-konventionelle Ehe geführt – ihre Beziehung zueinander war zugleich eng und distanziert, eine Mischung aus Ehegemeinschaft und Freundschaft. Veza sorgte durch Auftragsarbeiten nicht nur für einen großen Teil des insgesamt sehr spärlichen Einkommens, sondern verstand sich zudem als Förderin des Werkes ihres Mannes, den sie zur Arbeit anhielt. Canetti – selbst ausgesprochen eifersüchtig – unterhielt noch zu anderen Frauen gleichzeitige und langjährige Beziehungen, und Veza Canetti wusste über diese „Nebenfrauen“ durchaus Bescheid: die Schriftstellerin Frieda Benedikt (Pseudonym Anna Sebastian), die Canetti noch von Wien kannte, und die Malerin Marie-Louise von Motesiczky. Auch aus der Bekanntschaft mit der Schriftstellerin und Professorin Iris Murdoch entwickelte sich eine mehrjährige Affäre.

Nach dem Umzug nach England konzentrierte Canetti sich ganz auf die Recherchen zu seinem lange geplanten Buch über die Masse und veröffentlichte zwanzig Jahre lang praktisch keine neuen Werke. Lediglich die Blendung erschien 1946 in einer viel beachteten englischen Übersetzung, die im Zusammenspiel mit seiner schillernden Persönlichkeit und seiner allgemeinen Neugier auf Menschen dazu führte, dass er in den Londoner Intellektuellen- und Künstler-Kreisen zu einer Bekanntheit wurde. Canetti verkehrte mit anderen Emigranten wie Franz Baermann Steiner, Hans Günther Adler und Erich Fried wie auch mit britischen Gelehrten und Künstlern, unter anderem Bertrand Russell, Dylan Thomas und Arthur Waley. Er lebte sich also vergleichsweise rasch in England ein, was sicherlich auch darauf zurückzuführen ist, dass er (wie auch seine Frau Veza) gut englisch sprach. Canetti blieb, anders als viele Emigranten, auch nach Kriegsende in England, 1952 erwarb er die britische Staatsbürgerschaft.

Bis auf seine mitunter spannungsreichen persönlichen Beziehungen verbrachte Canetti ein äußerlich ruhiges Leben. Er unternahm gelegentlich Reisen in Großbritannien und im sonstigen Europa (Provence, Italien, Griechenland), nur eine dreiwöchige Reise nach Marrakesch (über die er später einen Band mit Reiseaufzeichnungen veröffentlichte) führte ihn 1954 ins außereuropäische Ausland. Wichtiger als solche Reisen waren für ihn stets die Begegnungen mit fremden Kulturen über Bücher, sei es in Form von Mythen- und Märchensammlungen oder von Reisebeschreibungen. Canettis umfangreiche Lektüren beschränkten sich jedoch keineswegs nur auf diese Gebiete.

Das Manuskript von Masse und Macht war in den 1950er Jahren schon weit fortgeschritten, doch Canetti zögerte noch mit der Publikation. Er befasste sich wieder mit einigen literarischen Projekten, von denen aber nur das 1956 mit mäßigem Erfolg aufgeführte Drama Die Befristeten abgeschlossen wurde. Als 1960 Masse und Macht endlich in einem deutschen Verlag erschien, war Canetti enttäuscht von der eher geringen Resonanz, die das Buch hervorrief. Der literarischen Öffentlichkeit wurde Canetti nur ganz allmählich bekannt, auch nachdem der Münchner Hanser-Verlag ab 1963 nicht nur die frühen Wiener Werke ins Programm nahm, sondern auch jüngere Arbeiten. Doch die regelmäßigen Neuerscheinungen führten dazu, dass Canetti in den 1960er und 1970er Jahren in der Öffentlichkeit präsenter wurde: durch Lesungen und Interviews, durch Aufführungen seiner Stücke und durch die Auszeichnung mit Literaturpreisen (unter anderen: 1966 Deutscher Kritikerpreis, 1968 Großer Österreichischer Staatspreis, 1969 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1972 Georg-Büchner-Preis).

Die Freude über den langsam zunehmenden Erfolg wurde Canetti jedoch erheblich getrübt durch den Tod seiner Frau Veza im Mai 1963 – eine weitere Erfahrung des Todes im nächsten Bekannten- und Familienkreis, nachdem bereits 1912 der Vater, 1937 die Mutter und 1953 Friedl Benedikt gestorben waren. Acht Jahre später, 1971, starb auch Canettis geliebter Bruder Georg an einer langjährigen Lungenkrankheit.

Zürich (1972-1994)

In den 1960er Jahren entwickelte sich aus der Bekanntschaft Canettis mit der in Zürich arbeitenden Kunstrestauratorin Hera Buschor eine Liebesbeziehung. Canetti hielt sich deswegen recht häufig in Zürich auf, und nachdem die beiden 1971 heirateten und ein Jahr später Canettis einziges Kind Johanna geboren wurde, übersiedelte Canetti zu seiner Familie nach Zürich, die Stadt, die er seit seinen Schweizer Jugendjahren besonders ins Herz geschlossen hatte. Er behielt jedoch sowohl die Wohnung in London wie auch seine britische Staatsbürgerschaft, zog sich aber nur noch gelegentlich zum Arbeiten dorthin zurück.

Diese Arbeit bestand, neben den natürlich weiterhin geführten Aufzeichnungen, überwiegend aus seiner Lebensgeschichte. Schon seit vielen Jahren fühlte sich Canetti mehr und mehr zur Gattung der Autobiografie hingezogen, und nach Überwindung einiger Bedenken bezüglich der Relevanz eines solchen Unternehmens begann er mit der Arbeit an dem ersten Band über seine Kindheit und Jugend, Die gerettete Zunge. Andere Projekte wie die Fortsetzung der Studie der Masse oder sein Buch gegen den Tod traten dabei in den Hintergrund – Canetti, der sich sehr häufig unzufrieden zeigte mit seiner schriftstellerischen Produktion, dachte wohl nicht mehr, sie noch realisieren zu können.

In der Schweiz lebte Canetti viel zurückgezogener als zuvor. Das lag zu einem guten Teil an dem außerordentlich glücklichen Familienleben, das er führte und das frei von den Spannungen seiner früheren Liebesbeziehungen war. Aber auch der Publikumserfolg seiner 1977 erscheinenden Autobiografie, so erfreulich er natürlich für Canetti war, legte ihm einen solchen Rückzug nahe. Als er 1981 für sein schriftstellerisches Werk mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, entschloss er sich, auch keine Interviews mehr zu geben und keine Lesungen mehr zu halten. Canettis Familienidyll wurde jedoch empfindlich gestört, als seine viel jüngere Frau Hera an Krebs erkrankte, dem sie schließlich 1988 erlag.

Elias Canetti ist 1994 im Alter von 89 Jahren in Zürich gestorben. Sein Nachlass befindet sich auf seinen Wunsch hin in der Zentralbibliothek Zürich. Der größte Teil dieses Nachlasses (Entwürfe, Aufzeichnungen, die etwa 20.000 Bände umfassende Bibliothek) steht der Forschung zur Verfügung, doch einen bestimmten „privaten“ Teil (Canettis Tagebuch, große Teile der Briefkorrespondenz) hat Canetti für 30 Jahre nach seinem Tod gesperrt – dieser darf also erst 2024 eingesehen werden.

Persönlichkeit

Canettis autobiographische Werke leben unter anderem von seinen Begegnungen mit einer Vielzahl bedeutender Persönlichkeiten und seiner Fähigkeit, Menschen durch Reduktion auf charakteristische, ungewöhnliche Details und Angewohnheiten zu beschreiben. Alma Mahler-Werfel, die Mutter der von ihm verehrten Anna Mahler beispielsweise bezeichnete er in seiner Autobiografie Der Augenspiegel als zerflossene Alte auf dem Sofa, als strotzende Witwe die die Trophäen ihres Lebens um sich versammelt haben. Im Porträt, das Oskar Kokoschka von seiner einstmaligen Geliebten gemalt hatte, sah er die Mörderin des Komponisten Gustav Mahlers.

Einige dieser Porträts sind auch als verletzende Bloßstellungen empfunden worden, etwa die vernichtenden Passagen über Canettis ehemalige Geliebte Iris Murdoch in Party im Blitz, dem posthum erschienenen Band über seine Londoner Jahre. Viele seiner Zeitgenossen berichten von Gelegenheiten, bei denen sich Canetti anderen gegenüber bösartig oder herzlos verhalten habe; Hilde Spiel nannte ihn eine „wirkliche Giftspritze“ und der Literaturkritiker (und spätere Ehemann Murdochs) John Bayley beschrieb Canettis Rolle in der Londoner Intellektuellenszene satirisch als „the godmonster of Hampstead“.

Schriftstellerisches Schaffen

Herauszuheben ist sein Werk Masse und Macht. Es ist nicht als streng soziologische Studie zu verstehen, sondern enthält viele Elemente der Psychologie, Methoden der Ethnologie und Einsprengsel der Zoologie. In dem Werk geht Canetti einem Thema nach, das ihn 30 Jahre lang beschäftigte, seitdem er 1922 eine Demonstration anlässlich der Ermordung Walther Rathenaus und 1927 in Wien den Massenaufruhr vor dem brennenden Justizpalast mitbekommen hatte. Was ist eine Masse? Warum geht von einer Masse eine Faszination aus, der man sich nicht entziehen kann? Wie bildet sich eine Masse und welchen „Gesetzmäßigkeiten“ folgt die eigentlich chaotische Menschenansammlung? Massenbewegungen sind ein Phänomen der Moderne. Die Beschäftigung mit dem Thema ist in den 30 bis 60er Jahren des 20. Jh. sehr populär. Die politische Wirksamkeit von Massenbewegungen sind seit der Französischen Revolution unbestritten. Mit der Herausbildung der Arbeiterschicht wird die gesellschaftliche Rolle der Masse noch mehr betont. Grundthese Canettis ist, dass das auf räumliche Abgrenzung bedachte Individuum in der Masse seine gesellschaftlichen Zwänge ablegen kann. Soziale Unterschiede werden nivelliert, und es erhält seine Freiheit zurück.

Den psychologischen Prozess, der sich innerhalb der Masse abspielt, nennt Canetti „Entladung“. In Anlehnung an Freud entwickelt er die These, dass Menschen neben den Grundbedürfnissen nach Essen, Trinken und Zuneigung auch einen Massentrieb besitzen. Dabei verliert die Masse ihre ursprüngliche negative Konnotation. Massen erscheinen als etwas Natürliches und Notwendiges.

Canetti unterscheidet geschlossene und offene Massen. Die z. B. baulich geschlossenen Massen sind meist „institutionalisierte Massen“ der Kirchen. Sie besitzen Regeln und Zeremonien, welche die Masse „abfangen“. „Lieber eine sichere Kirche voll von Gläubigen als die unsichere ganze Welt.“(S. 20) Die Institution stellt demnach eine Zähmung des Massetriebes dar.

Die Offene Masse ist voller Zerstörungssucht und in der Moderne meist frei von Religiösem. Sie besitzt das vornehmliche Ziel zu wachsen. Sie benötigt eine „Richtung“, ein Ziel, das außerhalb jedes Einzelnen liegt sowie einen „Rhythmus“, der ihren Zusammenhalt sichert. Zur Bildung einer Masse bedarf es oft eines „Massenkristalls“, einer festen beständigen Gruppe, um welche die Masse wachsen kann.

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal der Massen ist der „tragende Affekt“: Demnach unterscheiden sich die Hetzmasse, die auf Töten aus ist und auch im Tierreich vorkommt, die Fluchtmasse, ebenso aus dem Tierreich bekannt, die Verbotsmasse, die sich gegen bestehende Regeln auflehnt, die sie nicht mehr befolgen will, die Umkehrungsmasse, die sich gegen die ehemaligen Machthaber richtet, und die Festmasse.

Des weiteren leitet Canetti in dieser Arbeit das menschliche Machtgefühl aus der Konfrontation mit dem Tod und dem Erlebnis des Überlebens ab. Masse und Macht wurde zu Canettis bekanntestem, aber auch umstrittensten Buch.

Werke

Die Werke Canettis werden ungefähr in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgeführt.

  • Die Blendung (Roman; entst. 1930/1931, ersch. 1936, wurde aber schon 1935 ausgeliefert, 2. Aufl. 1948, 3. Aufl. 1963)
  • Hochzeit (Drama; entst. 1932, als Manuskript ersch. 1932, gedruckt zuerst 1964)
  • Die Komödie der Eitelkeit (Drama; entst. 1933/1934, gedruckt 1964)
  • Aufzeichnungen (entst. ab 1942, gedruckt in Buchform ab 1964). Die Aufzeichnungen liegen gesammelt vor in den Bänden Die Provinz des Menschen; Aufzeichnungen 1942-1972 (1973); Das Geheimherz der Uhr; Aufzeichnungen 1973-1985 (1987); Die Fliegenpein (1992); Nachträge aus Hampstead; Aus den Aufzeichnungen 1954-1971 (1994); Aufzeichnungen 1992-1993 (1996); Aufzeichnungen 1973-1984 (1999); Aufzeichnungen für Marie-Louise (entst. 1942, posthum ersch. 2005).
  • Die Befristeten (Drama, entst. 1952/1953, gedruckt 1964)
  • Fritz Wotruba (Über Wotruba mit 58 Abbildungen und enem Bildnis, Vorwort von Klaus Demus (deutsche Ausgabe); Preface von James S. Plaut (Englisch Ausgabe), 1955)
  • Die Stimmen von Marrakesch; Aufzeichnungen nach einer Reise (entst. 1954, ersch. 1968)
  • Masse und Macht (Vorarbeiten seit 1925, ersch. 1960)
  • Das Gewissen der Worte; Essays (Essays und Reden der Jahre 1936 und 1962-1976, ersch. 1975, 2. erw. Aufl. 1976)
  • Der Ohrenzeuge; Fünfzig Charaktere (ersch. 1974)
  • Die gerettete Zunge; Geschichte einer Jugend (Autobiografie, ersch. 1977)
  • Die Fackel im Ohr; Lebensgeschichte 1921-1931 (Autobiografie, ersch. 1980)
  • Das Augenspiel; Lebensgeschichte 1931-1937 (Autobiografie, ersch. 1985)
  • Party im Blitz; Die englischen Jahre (Autobiografie, posthum ersch. 2003) Rezensionzusammenfassungen bei perlentaucher.de
  • Werke X: Aufsätze - Reden - Gespräche (Verschiedenes von 1928 an, posthum ersch. 2005)
  • Das Hörwerk 1953- 1991 (2 CD). Prosa, Dramen, Essays, Vorträge, Reden, Gespräche. Frankfurt/M.: Zweitausendeins Verlag, 2006

Literatur

  • Penka Angelova: Elias Canetti – Spuren zum mythischen Denken. Zsolnay Verlag, Wien 2005. ISBN 3-552-05327-1
  • Dagmar Barnouw: Elias Canetti. Metzler-Verlag, Stuttgart 1979. ISBN 3-476-10180-0 (reichhaltige Bibliographie, kleine Aufsätze von und über Canetti, Rezensionen, Sekundärliteratur bis 1976)
  • Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie. Carl Hanser Verlag, München 2005. ISBN 3-446-20584-5
  • Konstantin Kaiser: Die Distanzierung der Macht: Elias Canetti und die Wiener Gruppe; in: "Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands", 20. Jg., Nr. 2; Wien: September 2003; S. 4-6. ISSN 1606-4321
  • Werner Morlang (Hg.): Canetti in Zürich: Erinnerungen und Gespräche. Nagel & Kimche in Carl Hanser Verlag, München 2005. ISBN 3-312-00353-9.
  • Carol Petersen: Elias Canetti. Colloquium-Verlag, Berlin 1990. ISBN 3-7678-0774-2
  • Edgar Piel: Elias Canetti. Beck-Verlag, München 1984. ISBN 3-406-09588-7.
  • Erich W. Schaufler:Elias Canettis Autobiographie in der deutschen Presse. Edwin Mellen Press, Lewiston [u. a.] 1992. ISBN 0-7734-9593-2 - (Studies in German language and literature; 11)
  • Kristian Wachinger: Elias Canetti. Bilder aus seinem Leben. Carl Hanser Verlag, München 2005. ISBN 3-446-20599-3
  • Helmut Göbel: Elias Canetti. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2005. ISBN 3-499-50585-1

Weblinks