Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus

Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (englisch Jerusalem Declaration on Antisemitism, abgekürzt JDA) vom März 2021 beansprucht den Begriff des Antisemitismus neu zu definieren. Sie wurde ab Juni 2020 von etwa 20 Akademikern erstellt und von rund 359 weiteren unterzeichnet.[1] Sie richtet sich gegen die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2016, die bis 2020 56 Staaten und viele Institutionen weltweit anerkannt hatten.[2]

Entstehung

Nach Angaben der JDA-Webseite erstellten wechselnde Arbeitsgruppen aus Autoren, die zu Antisemitismus, zum Holocaust oder verwandten Themen publiziert haben, den Text von Juni 2020 bis März 2021 online. Als Koordinatoren der Arbeitstreffen nennt die Webseite die Professoren Seth Anziska, Aleida Assmann, Alon Confino, David Feldman, Amos Goldberg und Stefanie Schüler-Springorum sowie Brian Klug und Emily Dische-Becker. Weil das erste Autorentreffen am Van Leer Jerusalem Institute stattfand, wurde die Erklärung nach Jerusalem benannt. Die Erstunterzeichner der JDA waren mehr als 200 Akademiker und Institutsleiter aus Europa, Israel, Kanada und den USA.[3] Nach ihrer Veröffentlichung unterzeichneten rund 200 weitere Akademiker die Erklärung.[4]

Absicht und Inhalt

Die JDA kritisiert die Arbeitsdefinition der IHRA als „weder klar noch kohärent“ und wirft ihr vor, den Unterschied zwischen antisemitischer Rede und legitimer Kritik an Israel und am Zionismus zu verwischen. Damit delegitimiere die IHRA israelkritische Stimmen von Palästinensern und anderen, auch Juden. Dies erschwere den Kampf gegen Antisemitismus. Die JDA will antisemitische Rede über Israel und Zionismus von legitimer Israelkritik unterscheiden helfen und damit die für sie unklaren Kriterien der IHRA überwinden. Damit will sie auch staatliche Gesetzgebung gegen Diskriminierung und für Meinungsfreiheit erleichtern, aber keinen legalen Code zur Festlegung von Hassrede bieten.

Die JDA unterscheidet den Antizionismus kategorisch vom Antisemitismus und will vor allem nicht-antisemitischen Antizionismus als freie Rede schützen. Sie versteht Zionismus als jüdischen Nationalismus, der einer Debatte prinzipiell offenstehe, während Bigotterie und Diskriminierung gegen Juden oder andere nie akzeptabel seien. Die JDA-Autoren erklären, dass sie damit keine politische Agenda und keine einheitliche Lösung des Israel-Palästina-Konflikts verfolgen.

Die JDA enthält 15 Richtlinien, davon fünf allgemeine und zehn spezielle zu Israel und Palästina. Diese reagieren auf die IHRA-Beispiele und die öffentliche Debatte zum selben Thema. Einige Richtlinien heben die Autoren selbst hervor: Nach Richtlinie 10 ist es antisemitisch, das Recht von Juden zu bestreiten, kollektiv und individuell als Juden im Staat Israel zu existieren und zu gedeihen. Dies widerspreche nicht den Richtlinien 12 und 13, wonach Kritik am Zionismus, Argumente für eine andere, volle Gleichheit garantierende staatliche Verfassung für die Region „zwischen dem Fluss und dem Meer“ und empirische Kritik am Staat Israel, seinen Institutionen und Gründungsprinzipien nicht per se antisemitisch seien. In Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt erklärt Leitlinie 12, es sei „nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen zwischen dem Fluss [Jordan] und dem Meer volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.“ Die 14. Richtlinie erklärt die antiisraelische Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) zu einer Protestform gegen Staaten, die nicht per se antisemitisch sei. Die Autoren geben an, dass sie keine einheitliche Meinung zu BDS vertreten.[3]

Rezeption

Einige deutsche Medienberichte begrüßten die JDA als Beitrag zu einer sachlichen Debatte um Antisemitismus und Israelkritik.[5] In Israel äußerte sich Omer Bartov, ein Unterzeichner der JDA, ähnlich positiv dazu.[6] Die Kulturwissenschaftlerin und Erstunterzeichnerin der JDA Aleida Assmann betonte, die Erklärung verbinde den Kampf gegen Antisemitismus untrennbar mit dem Kampf gegen weitere, etwa rassistische, ethnische, kulturelle, religiöse oder geschlechtsspezifische Formen von Diskriminierung. Die Anerkennung der Singularität des Holocaust bedeute nicht, dass dafür Ausschließlichkeit als Gegenstand des Erinnerns beansprucht werden dürfe.[7]

Alan Posener, Jürgen Kaube, Rafael Seligmann, Jan Feddersen, Guenther Jikeli, Uwe Becker[8] und das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus[9] kritisierten die JDA als Verharmlosung von antisemitischen Formen der sogenannten Israelkritik.

Der Politikwissenschaftler und Historiker Matthias Küntzel schrieb, die JDA sei nicht von Holocaustforschern verfasst und nur von wenigen renommierten Holocaust- und Antisemitismusforschern unterzeichnet worden. Nach Küntzels Ansicht verbindet die Unterzeichner nicht der „spezifische Sachverstand“, sondern „der politische Wille, den Israelhass vom Stigma des Antisemitismus zu befreien“.[10]

Die drei Antisemitismusforscher Lars Rensmann,[11] Julia Bernstein und Monika Schwarz-Friesel kritisieren die JDA als inkonsistent, unwissenschaftlich, als Rückfall hinter den langjährigen Forschungsstand zu israelbezogenem Antisemitismus und als politisches Manifest gegen den jüdischen und demokratischen Staat Israel.[12]

Literatur

  • Lars Rensmann: Keine Judenfeindschaft, nirgends? In: Stephan Grigat, Jakob Hoffmann, Marc Seul, Andreas Stahl (Hrsg.): Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der „Historikerstreit 2.0“. Verbrecher-Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-95732-570-9, S. 409–438

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Jerusalem Declaration (Homepage)
  2. Alex Feuerherdt, Florian Markl: Die Israel-Boykottbewegung. Alter Hass in neuem Gewand. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2020, ISBN 978-3-95565-396-5, S. 81.
  3. a b The Jerusalem Declaration on Antisemitism; Unterschriften unter Signatories, Richtlinien unter Guidelines im Seitenmenue
  4. Jerusalem Declaration: Post-launch signatories
  5. Alexander Diehl: „Nicht alles, was politisch falsch ist, ist auch antisemitisch“. (Interview mit Micha Brumlik) Die Tageszeitung (taz), 22. Juni 2021;
    Leticia Witte: Hoffnung auf lebhafte Diskussion. Domradio, 1. April 2021;
    Katharina Galor: Der Versuch einer neuen Definition. Zeit Online, 29. März 2021;
    Harry Nutt: „Jerusalemer Erklärung“: Faktenbasierte Aufmerksamkeit bei der Definition von Antisemitismus. Frankfurter Rundschau (FR), 29. März 2021;
    Hanno Loewy: Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus: Falsche Freunde, falsche Feinde. taz, 29. März 2021;
    Stefan Reinecke: Verständnis von Antisemitismus: Versuch einer Neudefinition. taz, 28. März 2021;
    Micha Brumlik, Axel Rahmlow: Jerusalemer Erklärung. Antisemitismus neu definiert. Deutschlandfunk (DLF), 26. März 2021;
    Christiane Habermalz: Eine neue Definition für Antisemitismus. DLF, 26. März 2021;
  6. Omer Bartov: Criticism of Israel and its Policies isn't Antisemitism. Haaretz, 30. März 2021
  7. Aleida Assmann: Wie viel Geschichte braucht die Zukunft?. In: Merkur Heft 869, Oktober 2021, 75. Jahrgang, S. 5–17, hier S. 15.
  8. Alan Posener: Jerusalemer Erklärung. Was ist das, wenn nicht antisemitisch? Die Welt, 29. März 2021;
    Jürgen Kaube: Neue Antisemitismus-Definition: Was ist per se Hass? FAZ, 26. März 2021;
    Rafael Seligmann: Jerusalemer Erklärung. Nützliche Idioten der Antisemiten. Cicero, 29. März 2021;
    Jan Feddersen: Antisemitismus und Israel. Das große Poltern. taz, 2. April 2021;
    Guenther Jikeli: Antisemitismus in Deutschland: „Vom Fluss bis zur See …“. taz, 6. Juni 2021;
    Uwe Becker: Gefährliche Blaupause. Jüdische Allgemeine, 30. März 2021
  9. Warum wir an der IHRA-Definition festhalten. Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V., 1. April 2021
  10. Matthias Küntzel: Intervention: Aber irgendwie doch. Perlentaucher, 30. März 2021; Matthias Küntzel: Nicht per se antisemitisch, aber irgendwie doch. Zur „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“. Audiatur-online.ch, 30. März 2021
  11. Lars Rensmann: Die „Jerusalemer Erklärung“: Eine Kritik aus Sicht der Antisemitismusforschung. Belltower News, 25. Mai 2021
  12. Julia Bernstein, Lars Rensmann, Monika Schwarz-Friesel: »Jerusalemer Erklärung«: Faktisch falsche Prämissen. Jüdische Allgemeine, 8. April 2021