Vertrag von Lissabon

Der Reformvertrag (ursprünglich auch EU-Grundlagenvertrag genannt) soll der Europäischen Union eine einheitliche Struktur und Rechtspersönlichkeit geben und den abgelehnten Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) ersetzen. Beim EU-Gipfel in Lissabon am 18. und 19. Oktober 2007 einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf den endgültigen Vertragstext. Bis Mitte 2009 soll der Reformvertrag durch alle Mitgliedstaaten ratifiziert sein.

Entwicklung

Europäischer Rat

Die Grundzüge des Reformvertrags sind vom Europäischen Rat bei seiner Tagung am 21. und 22. Juni 2007 in Brüssel im Mandat an die Regierungskonferenz, welche den definitiven Vertragstext ausarbeitet, beschlossen worden.[1] Der Vertrag, der bis 2009 von allen 27 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden soll, baut in weiten Teilen auf dem Verfassungsvertrag auf.

Regierungskonferenz

Im Rahmen der Regierungskonferenz, die am 23. Juli 2007 ihre Arbeit aufgenommen hat, wurde der Entwurf präsentiert, der 145 Seiten Vertragstext sowie 132 Seiten mit 12 Protokollen und 51 Erklärungen umfasst. Der Entwurf trägt den Arbeitstitel „Entwurf eines Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft“.[2]

Beim EU-Gipfel in Lissabon am 18. und 19. Oktober 2007 einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf den endgültigen Vertragstext, wobei Änderungswünsche der Vertreter von Italien und Polen berücksichtigt wurden.[3] Der Vertrag soll am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet werden.

Ratifizierung

Die Struktur des Reformvertrags, die bestehenden Verträge zu belassen und in diese die weitgehend unveränderte Substanz des EU-Verfassungsvertrags einzubauen, wurde in der Absicht gewählt, der Forderung nach nationalen Referenden die Grundlage zu entziehen. Schon kurz nach dem EU-Gipfel wurde jedoch in etlichen Mitgliedstaaten die Abhaltung eines Referendums – teilweise sogar von Regierungsparteien – gefordert. Es ist daher keinesfalls davon auszugehen, dass der EU-Reformvertrag erfolgreich ratifiziert wird und rechtzeitig vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 in Kraft treten kann.[4]

Zeitplan

der deutschen (1. Hälfte 2007) und portugiesischen (2. Hälfte 2007) EU-Ratspräsidentschaft:

  •  

21./22. Juni 2007

  

Europäischer Rat in Brüssel. Mandat für Regierungskonferenz.

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23. Juli 2007

Start der Regierungskonferenz in Lissabon. Beginn der Arbeit am Text des Reformvertrags auf Rechtsexperten-Ebene.

  •  

7.–8. September 2007

Treffen der Außenminister der Mitgliedstaaten. Anschließend Überarbeitung der Entwürfe durch die Rechtsexperten.

  •  

15. Oktober 2007

Treffen der Außenminister der Mitgliedstaaten.

  •  

18.–19. Oktober 2007

Europäischer Rat in Lissabon: endgültige Einigung über den Vertragstext.

  •  

13. Dezember 2007

Unterzeichnung des Reformvertrages (in Lissabon).

  •  

bis Mitte 2009

Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten.

Struktur

Mit dem Mandat [5] für die Regierungskonferenz über den Reformvertrag wurde das Verfassungskonzept, wonach alle bestehenden EU-Verträge aufgehoben und durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung „Verfassung“ ersetzt werden sollten, ausdrücklich aufgegeben.

Stattdessen soll die EU – so wie bisher – auf zwei Verträgen beruhen:

In diese beiden Verträge wird die Substanz der Regierungskonferenz 2004 (dh. des EU-Verfassungsvertrags) eingearbeitet.

Der "Entwurf eines Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft" hat folgende Gliederung:

I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
   Präambel
Änderungen des EU-Vertrags (Artikel 1)
Änderungen des EG-Vertrags (Artikel 2)
Schlussbestimmungen (Artikel 3 bis 7)
Protokolle
Erklärungen


Unterz.
In Kraft
Vertrag
1948
1948
Brüsseler
Pakt
1951
1952
Paris
1954
1955
Pariser
Verträge
1957
1958
Rom
1965
1967
Fusions-
vertrag
1986
1987
Einheitliche
Europäische Akte
1992
1993
Maastricht
1997
1999
Amsterdam
2001
2003
Nizza
2007
2009
Lissabon
 
                   
Europäische Gemeinschaften Drei Säulen der Europäischen Union
Europäische Atomgemeinschaft (Euratom)
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Vertrag 2002 ausgelaufen Europäische Union (EU)
    Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Europäische Gemeinschaft (EG)
      Justiz und Inneres (JI)
  Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS)
Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
Westunion (WU) Westeuropäische Union (WEU)    
aufgelöst zum 1. Juli 2011
                     


Änderungen gegenüber dem Verfassungsvertrag

Staatstypische Symbole

Der neue Grundlagenvertrag verzichtet im Gegensatz zum Verfassungsvertrag auf staatstypische Symbole wie Flagge und Hymne. Wegen der von Großbritannien abgelehnten Schaffung des Amtes eines EU-Außenministers wird dieses nun in abgeschwächter Form unter der Bezeichnung „Hoher Repräsentant der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ institutionalisiert. Das Wort "Verfassung" ist ebenfalls gestrichen. Auch "Gesetze" erlässt die EU nicht, sondern weiterhin Richtlinien und Verordnungen.

Grundrechtecharta

Der Text der Grundrechtecharta wird zwar nicht im Vertrag enthalten sein, durch einen Verweis wird sie jedoch für rechtsverbindlich erklärt. Großbritannien hat sich jedoch eine Ausnahme ausgehandelt, sodass die Grundrechtscharta vor britischen Gerichten keinen Rechtsschutz gewähren wird. Zwei weitere Staaten – Irland und Polen – haben sich die Prüfung einer Ausnahme vorbehalten. Polen hat beim Außenministergipfel am 7. September 2007 erklärt, sich dem opt out von der Grundrechtscharta anzuschließen.[6] Das Europäische Parlament hält es „für einen dramatischen Rückschlag und eine schwere Beschädigung des innersten Selbstverständnisses der Europäischen Union, wenn nun ein oder mehrere Mitgliedstaaten ein 'opt out' von der Charta der Grundrechte für sich in Anspruch nehmen“.[7]

Beibehaltung der traditionellen Vertragsstruktur seit dem Vertrag von Maastricht

Nirgens tritt der Begriff Verfassung auf. Die traditionelle Struktur eines Grundvertrages (modifizierter EWG-Vertrag, der erst EG-Vertrag und nun Vertrag über die Arbeitsweise der EU heißen wird) und eines ihm überstellten Vertrages, der EU-Vertrag, bleibt unangetastet. Da der neue Vertrag weiterhin das "optische Erscheinungsbild" eines Handelsvertrages mit Zusätzen an den Tag legt, dürfte die ökologisch-konservative Kritik am Verfassungsvertrag (das Fehlen von Umweltschutz und Gottesbezug), die höchstwahrscheinlich in den Niederlanden zur Ablehnung führte, nun hinfällig sein (Umweltschutz und Gottesbezug sind in einem Handelsvertrag durchaus unüblich).

Abstimmungsverfahren

Während die Liste der Themen, über die vom EU-Rat mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann, wie im Verfassungsvertrag vorgesehen erweitert wird, wird die Einführung des dort enthaltenen Abstimmungsverfahrens der doppelten Mehrheit auf 2014 verschoben. Bis dahin gilt für die Mehrheitsentscheidungen das im Vertrag von Nizza festgelegte Stimmenverhältnis, bei dem die vier großen Staaten mit über 50 Millionen Einwohnern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien) über gleich viele Stimmen (je 29) verfügen, und die nächstgrößeren (Spanien mit 45 Mio. Einwohner und Polen mit 38 Mio.) mit 27 Stimmen beinahe gleiches Stimmengewicht besitzen [8].

Von 1. November 2014 bis Ende März 2017 gelten dann die Abstimmungsregeln der doppelten Mehrheit, wie sie bereits im Verfassungsvertrag vorgesehen waren (55% aller Mitgliedstaaten, jedoch mindestens 15 Mitgliedsstaaten, die gleichzeitig mindestens 65% der Bevölkerung repräsentieren [9]). Während dieses Zeitraums kann jedoch jedes Ratsmitglied "beantragen", dass weiterhin die Abstimmungsregeln des Vertrags von Nizza Anwendung finden.

Ab 2017 soll das neue Abstimmungsverfahren uneingeschränkt gelten.

Anwendung des Ioannina-Kompromisses

Als erweiterter Minderheitenschutz wurde die Weitergeltung des sogenannten Kompromiss von Ioannina vereinbart. Demnach werden die Verhandlungen im Rat für eine "angemessene Frist" fortgesetzt, wenn dies mindestens 21% der Mitgliedstaaten oder mindestens 26,25% der repräsentierten Bevölkerung (d. h. 75% der Mitgliedstaaten oder Bevölkerung für eine Sperrminorität) verlangen. Ab 1. April 2017 kommt der Kompromiss von Ioannina vereinfachend auch schon zur Anwendung, wenn mindestens 15,4% der Mitgliedstaaten oder mindestens 19,25% der repräsentierten Bevölkerung (dh. 55% der Mitgliedstaaten oder Bevölkerung für die Bildung einer Sperrminorität) die Fortsetzung der Verhandlungen im Rat verlangen.

Klimawandel und Energiesolidarität

Weitgehend unbeachtet von Medien und Öffentlichkeit wurden gegenüber dem Verfassungsvertrag auch Ergänzungen vorgenommen. So wird die Bekämpfung des Klimawandels erstmals als ausdrückliches Ziel im Primärrecht erwähnt. Zudem werden an mehreren Stellen Vertragsklauseln zur Energiesolidarität eingefügt.

Beitritt und Austritt

Der EU-Reformvertrag wird erstmals den freiwilligen Austritt eines Staates ausdrücklich regeln. Beitrittswillige Staaten müssen die Werte der EU respektieren und sich verpflichten, diese zu fördern. Mit diesen Formulierungen wird Forderungen aus Frankreich und den Niederlanden nach strikteren Beitrittskriterien entsprochen.

Beitritt zur EMRK

Für den beabsichtigten Beitritt der EU – als eigenständiger Rechtsperson – zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wurde nun ein Unsicherheitsfaktor eingebaut. Der Abschluss des Beitrittsabbkommens der EU zur EMRK muss nämlich nun vom Rat einstimmig beschlossen und von sämtlichen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Letztlich steht somit jedem Mitgliedstaat ein Veto gegen den Beitritt der EU zur EMRK offen (Punkt III.19.s Mandat Regierungskonferenz bzw. Artikel 2 Absatz 177 Entwurf Reformvertrag über Artikel 188n Absatz 8 EGV).

Bezeichnungen

Der Vertrag über die Europäische Union (EUV) behält seinen bisherigen Namen. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) dagegen soll in Zukunft Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) heißen. Außerdem soll die Bezeichnung Gemeinschaft konsequent durch Union ersetzt werden.

Kritik am Reformvertrag

Da der Reformvertrag die Substanz des EU-Verfassungsvertrags weitestgehend übernimmt, wird von den Kritikern die bereits zum Verfassungsvertrag geäußerte Kritik auch gegenüber dem Reformvertrag aufrecht erhalten.[10]

Strukturelles Demokratiedefizit

Zwar wurden die Angelegenheiten mit Mitentscheidungsverfahren des Europäischen Parlaments ausgeweitet. Kritiker betonen jedoch, dass das strukturelle Demokratiedefizit der EU nicht gelöst wurde (Gewaltenteilung, Initiativmöglichkeit des Parlaments etc.). Mit dem Reformvertrag wird der Prozess, die demokratische Legitimität der EU zu erhöhen, als abgeschlossen betrachtet (siehe Entwurf der Präambel des Reformvertrags[11]), obwohl der Auftrag des EU-Gipfels von Laeken,[12] die Strukturen der EU zu demokratisieren, weiterhin unerfüllt bleibt.

Ignorierung der Kritik

Von globalisierungskritischer Seite wird u.a. betont, dass der Reformvertrag keine Antwort auf die sozialen und demokratischen Bedenken gibt, die in Frankreich und in den Niederlanden zu den ablehnenden Referenden geführt haben. Zwar wird unter den Zielen der Passus „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb“ gestrichen. Da jedoch zugleich ein Protokoll über die Sicherstellung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs vereinbart wird, besteht zwischen Befürwortern und Kritikern des Reformvertrags Konsens, dass sich aufgrund dieser geänderten Formulierung am freien und unverfälschten Wettbewerb nichts ändern wird.

Bloß „kosmetische“ Änderungen

Von mehreren Seiten, u.a. von Giscard d’Estaing, dem Präsidenten des Verfassungskonvents [13], wird kritisiert, dass der Reformvertrag bloß „kosmetische“ Änderungen vornehme und die Inhalte des EU-Verfassungsvertrag lediglich anders darstelle, um diese "leichter verdaulich" zu machen und Referenden zu vermeiden.

Mangelnde Öffentlichkeit

Kritisiert wird weiters, dass das Mandat für die Regierungskonferenz in Geheimverhandlungen auf Regierungsebene unter Ausklammerung der Öffentlichkeit erarbeitet wurde und dass dennoch keine Referenden vorgesehen sind.

Literatur

Dokumente

Vergleiche

Artikel

Quellen, Referenzen

  1. Europäischer Rat (Brüssel, 21./22. Juni 2007) – Schlussfolgerungen des Vorsitzes mit Anlage I – Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz
  2. Entwurf eines Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf Web des Rates der Europäischen Union
  3. Tagesschau: Durchbruch in Lissabon, 19. Oktober 2007.
  4. Sarah Seeger/Janis A. Emmanouilidis: „Ausweg oder Labyrinth? Analyse und Bewertung des Mandats für die Regierungskonferenz.“ CAP Analyse, 5, 2007, 19
  5. Europäischer Rat (Brüssel, 21./22. Juni 2007) – Schlussfolgerungen des Vorsitzes mit Anlage I – Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz
  6. Poland to join UK in EU rights charter opt-out, EUobserver, 07.09.2007
  7. Bericht Leinen A6-279/2007, 11.07.2007
  8. Mehrheitsrechner für EU-Ratsentscheidungen auf Website des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie www.bmwi.de
  9. Die Beschlussfassungsverfahren der EU: Das neue Abstimmungsverfahren der qualifizierten Mehrheit – Offizielle Erläuterung des Verfahrens durch die EU auf SCADPlus Website
  10. z.B. "Den Reformvertrag als Mogelpackung entlarven!" (EUattac, Attac Österreich)
  11. Entwurf der Präambel, Regierungskonferenz 2007, CIG 4/1/07 REV 1
  12. Erklärung von Laeken zur Zukunft der Union Europäischer Rat von Laeken, SN 273/01, 15.12.2001
  13. Pressedienst des Europäischen Parlaments, 17. Juli 2007