Turanismus

Der Turanismus (tr. turancılık) ist eine Ideologie, die einen gemeinsamen Ursprung der Türken, Ungarn, Finnen, Esten, Mongolen, Mandschuren und Jakuten annimmt.[1] Die spekulative Urheimat dieser „Turanier“ oder „turaniden Rasse“ war Turan, ein mythische Landschaft in Zentralasien, jenseits des Oxus. Gleichzeitig bezeichnet Turanismus das Bestreben, diese Völker zu einer geistigen und kulturellen Einheit zusammenzufassen. Der Turanismus trägt irredentistische Züge und gehört zu den sogenannten Pan-Bewegungen.

Turanismus und Panturkismus

Turanismus oder Pan-Turanismus werden häufig als Synonym zum Begriff des Panturkismus verwendet, dessen Einheitsgedanke sich allerdings auf Turkvölker beschränkt und keine Finnen, Ungarn und andere Völker umfasst.[2] Beiden gemeinsam ist der Abstammungsmythos und der Wunsch nach kultureller oder polistischer Einheit. Turanismus und Panturkismus sind Varianten des türkischen Nationalismus[3] und haben heutzutage ihre politische Bedeutung weitgehend eingebüßt.

Geschichte

Der Turanismus entwickelte sich maßgeblich unter dem Einfluss europäischer Turkologen. Einer dieser Vetreter war der jüdisch-ungarische Reisende und Turkologe Ármin Vámbéry. In Sketches of Central Asia widmete er bereits 1868 ein Kapitel den „Turaniern“.[4] Vambéry glaubte, dass alle türkischen Gruppen einer einzigen Rasse angehörten. Drei Jahre zuvor hatte er bereits gedanklich ein turanisches Imperium entworfen. Es sollte von der Adria bis weit nach China hinein reichen.[5] Später sollte er sich von dieser „Schimäre“ distanzieren. Möglicherweise trugen seine guten Kontakte zur Führungspitze der Jungtürken auch dazu bei, dass das Konzept des Turanismus dort Aufnahme fand.[6] Ein weiterer Orientalist mit großem Einfluss auf die Entwicklung des Turanismus war Léon Cahun. Begünstigt wurde der Turanismus ferner durch die russische Übergriffe gegen Türken in Zentralasien in den 1860er Jahren und auch durch die Behandlung der Türken im neu gebildeten Bulgarien.[7] Die allgemeine Verbreitung der Rassentheorie trug ebenfalls zur Entstehung des Turanismus bei.

In Ungarn erfreute sich die Strömung des Turanismus infolge der slawischen Oberherrschaft eine Zeitlang großer Popularität. So erschien dort von 1913 - 1970 regelmäßig eine Zeitschrift namens „Turan“.[8] Dort verfolgte ferner die 1918 gegründete und später umbenannte „Turanische Gesellschaft“ die Ziele des Turanismus.

Protagonisten

Einer der bekanntesten Vertreter turanistischen Gedankenguts war Ziya Gökalp, der Pläne für ein gemeinsames Turan entwarf. Besonders berühmt wurde sein Gedicht mit dem Vers Vatan ne Türkiyedir Türkler'e ne Türkistan Vatan büyük ve müebbet bir ülkedir:Turan[9] Die Zeilen künden von Turan, dem Vaterland der Türken. Ein weiterer herausragender Vertreter des Turanismus war der türkische Jude Munis Tekin Alp, der ebenfalls Konzepte zur Erschaffung Turans entwarf.[10] Daneben gab es eine Reihe von Publizisten und Autoren, die in jener Zeit den Turanismus propagierten. Beispiele sind Yusuf Akçura, ein Türke tatarischer Herkunft, Mehmet Emin Yurdakul mit seinem Gedicht Turana Doğru („nach Turan“), der Roman von Halide Edip Adıvar mit dem Titel Yeni Turan („Neues Turan“), Ömer Seyfettins Buch über den „morgigen Staat Turan“ (Yarınki Turan Devleti) und Fuad Köprülüs Grundschullesebuch mit dem Titel Turan. Viele der Genannten distanzierten sich später vom Turanismus. Einer der radikalsten Vertreter des Turanismus war Nihal Atsız, dessen Vorstellungen von der Überlegenheit des türkischen Rasse geprägt waren. Turanistisches Gedankengut beeinflusste insbesondere in der Person Enver Paşas auch die jungtürkische Führung und begünstigte den Kriegsteintritt gegen Russland im Ersten Weltkrieg.

Einzelnachweise

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Literatur

  • Jacob M. Landau: Pan-Turkism: From Irredentism to Cooperation. 2. Auflage, Indiana University Press 1995
  1. J.M. Landau in Encyclopaedia of Islam new edition, s.v. PAN-TURKISM
  2. Diese Differenzierung wurde erstmals vorgenommen von A. J. Toynbee: Report on the Pan-Turanian Movement 1917, S. 3f.
  3. Katy Schröder: Die Türkei im Schatten des Nationalismus. Hamburg 2003, S. 44
  4. Arminius (Hermann) Vambéry: Sketches of Central Asia 1868 S. 282 - 312
  5. Arminius Hermann Vambéry: Travels in Central Asia 1871, S. 485f.
  6. Jacob M. Landau: Pan-Turkism: From Irredentism to Cooperation. Indiana University Press 1995, S. 2
  7. Ibrahim Kaya: Social Theory and Later Modernities. Liverpool 2004, S. 60
  8. Jacob M. Landau: Pan-Turkism: From Irredentism to Cooperation. Indiana University Press 1995, S. 1
  9. Gökalp in der Zeitung Genç Kalemler 1911
  10. Vgl. Tekinalp: Turkish Patriot 1883-1961. Istanbul und Leiden 1984