Henri Poincaré

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Henri Poincaré

Jules Henri Poincaré [pwɛ̃kaˈʀe] (* 29. April 1854 in Nancy; † 17. Juli 1912 in Paris) war ein bedeutender französischer Mathematiker, theoretischer Physiker und Philosoph. Seine Forschungen hatten auch starke Rückwirkungen in die Astronomie, die Geodäsie und die Potentialtheorie.

Leben

Poincaré studierte ab 1873 Mathematik an der École Polytechnique und setzte seine Studien an der Elitehochschule École des Mines unter Charles Hermite fort. Er arbeitete zunächst als Bergbau-Ingenieur und ging dann als Mathematikdozent an die Universität Caen. Allerdings setzte er seine Tätigkeiten im Bergbauwesen als Mineninspektor Zeit seines Lebens fort. Seine Anwesenheit und anschließende Untersuchungstätigkeit bei einem Minenunglück in Magny im Jahr 1879 hinterließ tiefe Eindrücke und beeinflusste wohl auch sein Denken. Über seine Schwester Aline bekam er Kontakt zu philosophischen Zirkeln, sein Schwager war Emile Boutroux, auch unterhielt er regelmäßigen Kontakt zu seinem Kollegen Auguste Calinon. Bereits zwei Jahre nach seinem Doktorat (1879) wurde Poincaré 1881 zum Ordinarius für mathematische Physik an die Sorbonne in Paris berufen und hatte diese Professur bis zu seinem Tod 1912 inne. In den 90er Jahren erlangte er auch einen Ruf als angesehener Mathematiker.

Er war Mitglied und zeitweise Leiter des „Bureau des Longitudes“ in Paris. An dieser französischen Institution zur genauen Zeit- und Längenbestimmung befasste er sich mit der internationalen Synchronisierung der Weltzeit und deren Bezugssystem. Für diese Aufgaben wurde um 1970 ein eigener internationaler Dienst gegründet, der später in den globalen Erdrotationsdienst IERS überging.

Poincaré war Mitglied der damaligen französischen scientific community, mit „Fabrikzeichen“ der legendären Polytechnique - also einem konventionellen Zugang zu der Szene. 1887 wurde er Mitglied der Akademie der Wissenschaften, er verstand es sich in der Pariser und der internationalen Szene, auf Konferenzen und in diversen Netzwerken zu bewegen und sich aktiv zu beteiligen.

Seine Publikationstätigkeit umfasst die Autorschaft von gut 30 Büchern, zahllosen wissenschaftlichen Schriften und die Herausgeberschaft von elektrotechnischen Zeitschriften.

Werk

Poincarés Werk zeichnet sich durch Vielfalt und hohe Originalität aus; zu seiner außergewöhnlichen mathematischen Begabung kam auch ein hohes Maß an Intuition, doch auch Zurückhaltung. Er entwickelte die Theorie der automorphen Funktionen und gilt als Begründer der algebraischen Topologie. Weitere seiner Arbeitsgebiete in der Reinen Mathematik waren die algebraische Geometrie und die Zahlentheorie. Auch die Angewandte Mathematik profitierte von Poincarés Ideenreichtum. Seine Beiträge reichen von Optik bis Elektrizität, von Quanten- bis Potentialtheorie, von Thermodynamik bis spezieller Relativitätstheorie, die er mitbegründete.

Zu Ehren seines Werkes wurde nach ihm der Asteroid (2021) Poincaré benannt. Wegen seiner Tätigkeit auf vielen Gebieten wird Poincaré manchmal auch als der letzte Universalist bezeichnet. Deswegen können die folgenden Ausführungen über sein Werk nur beispielhaft sein.

Ingenieurwissenschaften und Geodäsie

Poincaré, der in der Tradition der „polytechniciens“ zwischen abstrakter Wissenschaft und konkreten Anwendungen pendelte, war der Grandseigneur der französischen Ingenieur-Gelehrten. Er organisierte Vermessungsexpeditionen nach Peru und setzte sich für die Erhaltung des Eiffelturms als Funkturm ein. Erfolglos war Poincaré aber nur, als sein „Bureau des Longitudes“ versuchte, die Einheiten der Zeit zu metrisieren. Er wirkte an der World Time Conference 1884 mit, wo es um die Festlegung eines Nullmeridians und Zeitmessung sowie Zeitsynchronisation ging. War man Frankreich bei der Meterkonvention 1875 für ein universelles Längenmaß noch gefolgt, verlief der Nullmeridian nun durch Greenwich - eine diplomatische Niederlage - und es blieben die „unmetrischen“ Einheiten von 24 Stunden und sechzig Minuten bzw. Sekunden bestehen. 1897 unterbreitete Poincaré einen weiteren Vorschlag zur Dezimalisierung der Zeit bei Festhalten am 24-Stunden-Tag und zu einer 400-Grad-Einteilung des Kreises; seines Erachtens den Forderungen der Zweckmäßigkeit, Konventionalität und Kontinuität Rechnung tragend und somit weniger radikal als etwa Diskussionsbeiträge seines Zeitgenossen Alfred Cornu. 1900 scheiterten seine Bemühungen jedoch politisch endgültig. Auch statt einer Weltzeit einigte man sich auf den (amerikanischen) Kompromiss von Zeitzonen.

Mit dem Problem der Zeit befasste sich Poincaré (wie auch Einstein) um die Jahrhundertwende nicht nur physikalisch-philosophisch (siehe unten, Relativität), sondern auch aus technischer Perspektive. Die nationale und internationale Synchronisation der wichtigsten Zeitdienste, welche bisher auf gemeinsamer Beobachtung astronomischer Ereignisse beruhte, sollte nun durch Austausch telegrafischer Signale erfolgen. Die internationale Synchronisation, verwirklicht ab etwa 1950 durch weltweite Verbreitung von UTC-Funksignalen, verdankt Poincaré eine wichtige Initialzündung. Unmittelbar von Poincaré initiiert wurde ein Zeitkoordinationssystem mittels einer am Pariser Eiffelturm als Zentrum installierten Anlage. Global Positioning System ist heute nach der gleichen Logik organisiert.

Topologie

Poincaré gilt als Begründer der algebraischen Topologie. Er hat den Begriff der Fundamentalgruppe eingeführt und den in Enrico Bettis Werk ansatzweise enthaltenen Begriff der Homologie weiterentwickelt (wobei seine Methodik vor allem kombinatorischer Natur und die algebraischen Aspekte wenig ausgeprägt waren). Er gab eine Definition der Mannigfaltigkeit (allerdings nur eingebettet in einen euklidischen Raum) und formulierte für sie die Poincare-Dualität. Für eine n-dimensionale kompakte, orientierte Mannigfaltigkeit besagt diese, dass die i-te Homologiegruppe isomorph ist zur (n-i)-ten Kohomologie. So wie er die meisten seiner topologischen Begriffe und Ergebnisse nicht rigoros formulierte, hat er auch diese nicht rigoros bewiesen.

Zu seinem algebraisch-topologischen Werk gehört auch die Poincaré-Vermutung. Wichtig ist ferner sein Werk über Differentialformen. Poincaré erkannte als erster, dass man mit ihnen die deRham-Kohomologie definieren kann, die unter bestimmten Umständen isomorph ist zur singulären, doch konnte er dies nicht beweisen. Sein Oeuvre enthält auch Ansätze zur Morse-Theorie und zur symplektischen Geometrie.

Insgesamt umfasst sein topologisches Werk 13 Fachartikel, von denen der bedeutendste der 1895 veröffentlichte Analysis Situs ist.

n-Körper-Problem

Anlässlich seines 60. Geburtstags schrieb der schwedische König Oskar II., auf Anraten des Mathematikers Mittag-Leffler, einen Preis aus, der aus vier Einzelfragen bestand. Die erste Frage behandelte das n-Körperproblem. Von der Beantwortung der Frage erhoffte man sich Einsichten über die Stabilität des Sonnensystems. Dieses Problem wurde als so schwierig angesehen, dass auch andere bedeutende Resultate der Himmelsmechanik akzeptiert wurden. Das Preiskomitee bestand aus Gösta Mittag-Leffler, dem Editor der Acta Matematica, wo die Preisauschreibung veröffentlicht wurde, aus Charles Hermite und aus Karl Weierstrass. Das zweite Problem betraf eine detaillierte Analyse der Fuchsschen Theorie der Differentialgleichungen, das dritte erforderte Untersuchungen über nichtlineare Differentialgleichungen erster Ordnung, die von Charles Auguste Briot und Jean-Claude Bouquet betrachtet wurden, das letzte schließlich betraf die Untersuchung solcher algebraischer Beziehungen der Fuchsschen Funktion, die die gleiche automorphe Gruppe hatten.

Obwohl Poincare schon bedeutende Beiträge zur Theorie der Fuchsschen Differentialgleichungen geliefert hatte, entschied er sich, die erste Frage zu untersuchen. Das n-Körper Problem wurde wie folgt gestellt:

Für ein gegebenes System von n sich untereinander anziehenden Teilchen, die den Newtonschen Bewegungsgesetzen folgen, soll unter der Annahme, daß es zu keinem Zweierstoss kommt, eine allgemeine Lösung gefunden werden in Form einer Potenzreihe in den Zeit und Raumkoordinaten, die für alle Werte der Zeit und Raum Koordinaten gleichförmig konvergiert.

Die Beträge mussten vor dem ersten Juni 1888 eingehen. Der Beitrag des Preisgewinners sollte in der Acta veröffentlicht werden. Schließlich gingen 12 Beiträge ein, von denen 5 das erste Problem behandelten, einer das dritte und die restlichen sechs hatten sich anderen Fragen der Himmelsmechanik gewidmet. Poincares Beitrag, der mit 158 Seiten ungewöhnlich lang war, erfüllte nicht ganz die vorgeschriebenen Formalitäten, wurde aber trotzdem akzeptiert.

Komplikationen bei der Preisvergabe

Unter dem Preiskomitee setzte sich schnell die Einsicht durch, dass nur 3 der 12 Eingänge preiswürdig seien. Der von Poincaré, der von Appell, wie Poincaré ein früherer Student von Hermite, sowie der von Heidelberg. Poincaré hatte sich in seinem Beitrag auf die Untersuchung des eingeschränkten Dreikörperproblems konzentriert. Obwohl sich das Komitee sich sehr wohl der Qualität des Poincaréschen Beitrags bewusst war, hatte es doch erhebliche Schwierigkeiten alle Einzelheiten zu verstehen. Dies drückte Hermite freimütig in einem Brief an Mittag-Leffler aus.

Man muß zugeben, daß in dieser Arbeit, wie auch in seinen übrigen Untersuchungen, Poincaré den Weg vorzeigt und Ideen vorgibt, aber daß er es anderen überläßt die Lücken zu füllen und damit die Arbeit zu vollenden. Picard hat ihn oft nach Erklärungen und Ausführungen für seine Arbeiten in Competus redu gefragt, ohne daß er irgendeine Antwort bekam, außer, „das ist evident...“ So erscheint er wie ein Prophet, für den die Wahrheit offensichtlich ist, aber eben nur für ihn.

Poincaré betrachtete zunächst formale Lösungen im Sinne von trigonometrischen Reihen und behauptete, dass sie divergent seien. Dann benutzt er seine geometrische Theorie der Differentialgleichungen, die er in den Jahren 1881–1886 im Journal de Mathématics entwickelt hatte und behauptete, damit die Stabilität des eingeschränkten Dreikörperproblems beweisen zu können. Es folgt die Einführung von Integral-Invarianten, mit der er eine allgemeine Theorie von periodischen Lösungen gefunden haben glaubte. Außerdem beinhaltete die Arbeit ein Theorem über die Nichtexistenz gewisser algebraischer erster Integrale des Dreikörperproblems, dies war eine Verallgemeinerung des Satzes von Bruns.

Da Weierstrass selbst an der Lösung des Dreikörperproblems in Form einer konvergenten Reihe arbeite, war er insbesondere an Poincarés Behauptung zu deren Divergenz interessiert. Da ihn die Ausführungen von Poincaré zu diesem Punkt nicht überzeugten, entspann sich ein reger Briefwechsel, wobei nicht ganz im Sinne der Unparteilichkeit insbesonders Mittag-Leffler den direkten Kontakt zu Poincaré vor der offiziellen Preisvergabe suchte. Poincaré schrieb eine Reihe von 9 Kommentaren (die später in die endgültige gedruckte Version aufgenommen wurden). Der erste dieser Kommentare beschäftigte sich mit der Divergenz allgemeiner Störungsreihen, hierbei argumentiert Poincaré, dass diese Reihen divergent seien, da sonst das Problem integrabel sei. Das würde aber der Tatsache widersprechen, dass, wie Poincaré zeigte, die ersten Integrale des Problems keine algebraischen Integrale sind. Diese Argumentation ist allerdings falsch, wie die späteren Arbeiten von Sundmann und Wang zeigten.

Nichts desto trotz setzte sich unter dem Komitee die Einsicht durch, dass Poincarés Arbeit mit dem Preis auszuzeichnen war. Weierstrass übernahm die Aufgabe, einen Bericht über Poincarés Arbeit zu schreiben. Aufgrund Weierstrass angegriffener Gesundheit verzögerte sich aber dessen Anfertigung. Veröffentlicht wurde er aber nie (siehe #Der Fehler in der ersten Version: homoklinische Punkte )

Die Prioritätsfrage

Nach der Veröffentlichung des Preises entspann sich ein Prioritätsstreit mit dem Astronomen Hugo Gylden, der ebenfalls Untersuchungen über das eingeschränkte Dreikörperproblem mit Hilfe von Störungsreihen angestellt hatte. Gylden behauptete (ohne das je zu beweisen) nun nicht nur, dass diese Reihen konvergierten, sondern auch, dass aus dieser Konvergenz die Stabilität des eingeschränkten Dreikörperproblems folgen sollte. Mittag-Leffler, der Poincaré verteidigte (und damit auch die Entscheidung des Preiskomitees), erbat sich wiederum von Poincaré Argumentationshilfen. Der Streit zog sich hin und flaute erst nach der Veröffentlichung von Poincarés endgültiger Version ab.

Der Fehler in der ersten Version: homoklinische Punkte

Die Veröffentlichung von Poincarés Betrag, der mit dem Preis ausgezeichnet wurde, verzögerte sich bis November 1890 und als er veröffentlicht wurde, unterschied er sich deutlich von der Originalarbeit von Poincaré. Was war geschehen? Im Juli 1889 bat Edvard Phragén der Herausgeber der Acta Poincaré um die Erklärung einiger unklarer Punkte. In seiner Antwort an Phragén entdeckte Poincaré einen wesentlichen Fehler in seiner Arbeit, welchen er sofort Mittag-Leffler mitteilte. Poincaré hatte übersehen, dass der homoklinische Schnitt auch transversal sein könnte. Die Stabilität des Systems war nur nicht mehr garantiert und die Dynamik sehr verschieden. Genau genommen war dies das erste Beispiel von Chaos in einem dynamischen System. Poincaré war über seinen Fehler so erschüttert, dass er es Mittag-Leffler freistellte, den Preis zurückzuziehen. Mittag-Leffler war von der Qualität der Poincaréschen Arbeit überzeugt, war aber sehr an der Reputation des Preises, der Acta , und nicht zuletzt seiner eigenen sehr interessiert.

Obwohl die entsprechende Ausgabe der Acta zwar gedruckt, aber noch nicht ausgeliefert worden war, war eine kleine Anzahl gedruckter Ausgaben schon verteilt worden. Mittag-Leffler drängte Poincaré zu absolutem Stillschweigen über diesen Fehler, verlangte, dass der Fehler in der endgültigen Version der Arbeit ausgebessert sein müsste und er verlangte ferner, dass Poincaré für die Kosten der Neuauflage des Preises aufkommen solle. Poincaré stimmte dem ohne Vorbehalte zu, obwohl die Druckkosten von 3585 Kronen 65 Öre das Preisgeld um mehr als 1000 Kronen überstiegen (Das Jahresgehalt von Mittag-Leffler entsprach etwa 7000 Kronen.) Mittag-Leffler arbeitete von nun an unermüdlich an der Schadensbegrenzung des Vorfalls. Zum einen tat er alles, um die schon ausgelieferten Exemplare zurückzuerhalten (was ihm auch bis auf eines gelang). Er überredete Phargmén, den Vorfall nicht öffentlich zu machen (Auf der anderen Seite erbat er von Poincaré ein Gutachten mit dessen Hilfe Phragén einen Lehrstuhl für Mechanik an der Universität von Stockholm erhielt und später zum Mitherausgeber der Actas aufstieg). Als Weierstrass von dem Fehler Kenntnis erhielt, wollte er ihn unbedingt in sein Schlussgutachten mit aufnehmen. Mittag-Leffler tat dann alles in seiner Macht stehende, damit dieses Gutachten nicht veröffentlicht wurde, was dann auch geschah.

Die endgültige Fassung der Poincaréschen Arbeit

Die endgültige Fassung seiner Abhandlung erschien in der Nummer 13 der Acta im Dezember 1890. In dieser Version gibt es keine Diskussion der Stabilität mehr. Die Betonung liegt vielmehr auf den Resultaten der periodischen, den asymptotischen und den doppelt asymptotischen Lösungen, ferner auf den Resultaten über die Nichtexistenz der ersten Integrale und der Divergenz der sogenannten Lindstedt-Reihe. Die wohl interessanteste Änderung betrifft die sogenannten asymtotischen Flächen. Von ihnen zeigt Poincaré, dass sie nicht geschlossen sein können, sondern dass sie sich in einer komplizierten Art und Weise unendlich oft schneiden. Dies war der Vorgeschmack auf das chaotische Verhalten der Lösungen.

Das Nachspiel

Zwei Jahre später veröffentlichte Poincaré sein monumentales Werk Les méthodes nouvelles de la mécanique céleste. dieses Werk ist zum größten Teil eine Ausarbeitung seiner Preisschrift. Im letzten Kapitel des dritten Teils betrachtet er doppelt asymptotische Lösungen. Hierbei bezeichnet er nicht periodischen Lösungen, die für gegen eine periodische Lösung gehen als homoklinische Lösung. Für eine periodische Lösung von hyperbolischer Form eines Hamilton System mit zwei Freiheitsgraden, entsprichte eine solche Lösung einem Schnittpunkt (ein Homoklinischer Punt) zwischen stabilen und instabilen Kurven, die mit der entsprechenden Wiederkehrabbildung verbunden sind. Das entsprechende komplizierte Verhalten der Bahnen entsteht, wenn sich die stabilen und unstabilen Kurven transversal schneiden. Das Verhalten des Flusses in der Nähe solcher homoklinischen Bahnen wurde 1937 von Birkoff bewiesen. Dieses Ergebnis wurde wiederum von Smale 1965 verallgemeinert.

Die Frage der Stabilität wurde teilweise durch das sogenannte KAM-Theorem beantwortet. Hierbei wird bewiesen, dass die Tori von integrablen Systemen (wie das Zweikörperproblem) gegenüber beinahe allen Störungen stabil ist. Hierbei bedeutet beinahe, Störungen mit inkomensurablen Frequenzen, während Störungen mit kommensurablen Frequenzen zu Instabilitäten führen, wie sie Poincaré beschrieb.

Die Frage der Existenz von Lösungen, die durch konvergente Potenzreihen dargestellt werden kann, wurde 1912 für den Fall n=3 von Karl Sundman und für n> 3 1990 von Q. Wang bewiesen.

Chaotische Bahnen

Astronomen verbinden mit dem Namen Henri Poincaré vor allem seine Beiträge zur Himmelsmechanik. Poincaré entdeckte das deterministische Chaos bei der Analyse der Stabilität des Sonnensystems - einem heute topaktuellen Thema. Die Diskussion um Determinismus und Vorhersagbarkeit fasste er in seinem Buch „Wissenschaft und Methode“ (1912) mit folgenden Worten zusammen, die eine mechanistische Weltsicht zeigen, die damals in der Naturwissenschaft vorherrschte:

„Wenn wir die Gesetze der Natur und den Anfangszustand exakt kennen würden, so könnten wir den Zustand des Universums zu jedem weiteren Zeitpunkt vorhersagen. Aber selbst wenn die Naturgesetze keine Geheimnisse mehr vor uns hätten, so könnten wir die Anfangsbedingungen doch nur genähert bestimmen. Wenn uns dies erlaubt, die folgenden Zustände mit der gleichen Näherung anzugeben, so sagen wir, dass das Verhalten vorhergesagt wurde, dass es Gesetzmäßigkeiten folgt. Aber das ist nicht immer der Fall: Es kann vorkommen, dass kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen große im Endergebnis zur Folge haben (...) Vorhersage wird unmöglich und wir haben ein zufälliges Phänomen.“

Heute weiß man z.B., dass deshalb die Bahnen gewisser Asteroiden „plötzlich“ wegdriften oder zu erdnahen Asteroiden werden können. Vor einigen Jahren errechnete der Wiener Astronom R. Dvorak, dass der bekannte Kleinplanet Eros nach 20 Jahrmillionen auf relativ stabiler Bahn durch chaotisch wirkende Bahnstörungen in die Sonne stürzen wird.

Relativitätstheorie

Poincaré hat die spezielle Relativitätstheorie (1905) insofern begründend vorweggenommen, als er die Gültigkeit der Lorentz-Transformation anerkannte (1904) und die Gleichzeitigkeit mittels Signalaustausch durch Licht beschrieb (1898), dessen konstante und absolute Geschwindigkeit er ebenfalls postulierte. Er erkannte die Schwierigkeiten dieser Theorie, die Albert Einstein später unter dem Titel spezielle Relativitätstheorie löste. Doch anders als dieser wollte der pragmatischere Poincaré die alte Mechanik nicht umstoßen, sondern umbauen. Auch war er sich über eine augenblickliche Wirkung der Gravitation nicht sicher.

Als erster Wissenschafter hat er die Möglichkeit erwogen, die drei Raumdimensionen um jene der Zeit auf vier zu erweitern, also zum Raum-Zeit-Kontinuum. Allerdings nahm er davon wieder Abstand, weil drei „besser konvenierten“. Diese von Poincaré stammende Idee erwähnt Hermann Minkowski zu seiner Raum-Zeit-Konstruktion im Rahmen seines Beitrags zur Relativitätstheorie.

Einstein kannte Poincarés einschlägige Arbeiten zum Teil; ob er sie vor 1905 gelesen hat, ist unklar. Auf jeden Fall hatte er Kenntnis von „Wissenschaft und Hypothese“ - und damit den Grundzügen der Ideen Poincarés zur Absolutheit respektive Relativität der Zeit. Denn die deutsche Ausgabe enthielt Auszüge von „La mesure du temps“ (Das Maß der Zeit). Begegnet sind sich die beiden nur einmal, auf dem ersten Solvay-Kongress 1911 in Brüssel. Ihre gegenseitige Wertschätzung hielt sich in Grenzen. Poincaré befand Einsteins Herangehensweise als merkwürdig, war jedoch von ihr beeindruckt und sagte ihm und seiner Theorie Zukunft voraus.

Sonstige Beiträge zu Physik und Mathematik

Zusammen mit Hendrik Antoon Lorentz fand Poincaré grundlegende theoretische Ansätze für die Quantenphysik, was Louis de Broglie in Kombination mit Einsteins spezieller Relativitätstheorie die Möglichkeit gab, die Theorie der Materiewellen zu formulieren. Unter seinen zahlreichen weiteren Beiträgen zur theoretischen Physik ist noch der zur Elektrodynamik hervorzuheben.

In der Mathematik hat er außerdem wichtige Beiträge zu der qualitativen Theorie der Differentialgleichungen, der Theorie analytischer Funktionen in mehreren komplexen Veränderlichen, der Theorie der automorphen Formen, der hyperbolischen und algebraischen Geometrie und der Zahlentheorie geliefert.

Bei der Diskussion von dynamischen oder diskreten Systemen auf Fixpunkte und Stabilität zeigen sich Poincaré-Schnitte und Poincaré-Abbildungen als sehr nützlich und hilfreich.

In der Zahlentheorie gab er 1901 eine Konstruktion der rationalen Punkte auf elliptischen Kurven mit seiner Tangenten-Sekanten-Methode.

In der Funktionentheorie bewies er - in intensiver Konkurrenz zu Felix Klein - ein Uniformisierungstheorem für Riemannsche Flächen mit Hilfe der von ihm ausgebauten Theorie der automorphen Funktionen.

Erkenntnistheorie

Er schrieb auch philosophische Abhandlungen zur Wissenschaftstheorie und begründete dabei eine Form des Konventionalismus. Er trennte das Faktische von der Definition. Auch lehnte er die Klassifizierung in die beiden Extrema Idealismus und Empirismus ab und es gelang ihm in seiner Philosophie eine Verquickung von geistes- und naturwissenschaftlichen Fragestellungen.

Geprägt vom Fortschritts-Paradigma und Optimismus des 19. Jahrhunderts ging Poincaré mit einem mathematischen Naturverständnis und dem Experiment an die Arbeit. Er klammerte jedoch bewusst die Suche nach der Wahrheit als letzter Realität aus und operiert nicht mit metaphysischen Objekten - gewissermaßen formuliert er Aufklärung neu. Seine Methode ist die Herstellung zuverlässiger Relationen. Die Bedeutung von Erkenntnis liegt in der Beständigkeit von Relationen und darin, diese freizulegen - und nicht in der (uns) verborgenen Realität. Weiters gehört zu seiner Methode das Aushandeln von Konventionen. Die Konvention entsteht jedoch nicht aus einer antirealistischen Beliebigkeit, sie ist zweckdienlich, gestaltet unsere Lebenswelt und ist Ergebnis einer Aushandlung. Zweck wissenschaftlichen Arbeitens sind der Fortschritt und das Schließen von Lücken.

Aus dieser philosophischen Sicht erklärt sich auch sein Festhalten an der Differentialgleichung als Mittel zur Beschreibung der Natur - was ihn jedoch auch veranlasste am Ätherkonzept, trotz der zu seiner Zeit bereits offensichtlich gewordenen Erklärungsdefizite, festzuhalten.

Eine gute Darstellung seiner Position, zum Teil eine Kompilation anderer Schriften, und zu seiner Zeit ein Bestseller, findet sich in

Wissenschaft und Hypothese

Das Werk gliedert sich in vier Teile.

„Zahl und Größe“ beschäftigt sich zuerst mit der Möglichkeit von Mathematik. Ist Mathematik bloß ein tautologisches Unternehmen, ein System analytischer Urteile, welche alle auf Identität zurückführen? Nein, auch der Mathematiker erschließt das Allgemeine aus dem Besonderen. Poincaré stellt die vollständige Induktion, den „rekurrierenden Schluss“ vor. „Die Mathematiker studieren nicht Objekte, sondern Beziehungen zwischen den Objekten…“.

Der Mathematiker konstruiert durch logischen Schluss ein „mathematisches Kontinuum“. Er schafft ein System, das nur durch Widersprüche begrenzt wird. Ausgangspunkt der Konstruktion sind Symbole, die durch Intuition geschaffen werden. Somit steht das mathematische Kontinuum im Gegensatz zum physikalischen Kontinuum, das aus der Sinneserfahrung abgeleitet wird. Damit unterscheidet sich Poincarés Philosophie von der Position Bertrand Russells (Logizismus) und vom David Hilbertschen Formalismus, den Poincaré auch kritisiert.

„Der Raum“ beschäftigt sich mit Geometrie (welche er nicht gemeinsam mit Mathematik behandelt wissen will). Geometrie entspringt der Erfahrung fester Gegenstände in der Natur, sie ist aber keine Erfahrungswissenschaft – sie idealisiert diese Körper und vereinfacht damit die Natur. Poincaré stellt verschiedene Geometrie - Axiomensysteme vor, bezeichnet sie als „Sprachen“. Der menschliche Verstand passt sich gewissermaßen der beobachteten Natur an, wir wählen jenes geometrische System, welches am „bequemsten“ ist: „unsere Geometrie ist nicht wahr, sondern sie ist vorteilhaft“.

„Die Kraft“ widmet sich zunächst der Mechanik und stellt die Grundfrage, ob ihre Grundprinzipien veränderbar seien – Poincaré stellt die Empirie britischer Tradition der kontinentalen deduktiven Methode gegenüber. Er stimmt der Erfahrung als Quelle der Erfahrung zu und führt weiter mit einer Forderung der Trennung von Hypothesen und bloßer Konventionen: Raum, Zeit, Gleichzeitigkeit und euklidsche Geometrie sind nicht absolut, sie sind reine Konventionen – bequeme Sprachen der Beschreibung. Mechanik ist also anthropomorph. Er trägt dazu kurze Begriffsgeschichten zu Masse, Beschleunigung, Kraft und Bewegung vor, verbindet diese und führt uns dazu kurz im Kreis, bevor er mit der Bedeutung von Konvention den Gedankenzirkel entwirrt. Jedoch, durch das Einführen von (praktischen) Übereinkommen, durch Verallgemeinerung geht Objektivität verloren. Wo diese zu weit geht, setzt Poincaré mit Kritik zu Nominalismus an. Wie zur Mechanik verdeutlicht er auch anhand der Astronomie und Thermodynamik seine Position.

Der letzte Teil „Die Natur“ beginnt mit einer Erkenntnistheorie. Poincarés Erkenntnisquelle ist zunächst einzig das Experiment und die Verallgemeinerung, er erkennt, dass diese nicht frei von Weltanschauung ist und „...man darf daher niemals eine Prüfung von der Hand weisen...“. Die Verallgemeinerung setzt eine Einfachheit der Natur voraus, diese Einfachheit kann jedoch auch nur scheinbar sein. Die Hypothese ist „so oft als möglich der Verifikation“ zu unterwerfen, wie später – anders begründet – auch Karl R. Popper (Kritischer Rationalismus) sinngemäß formulieren wird. Poincaré unterscheidet drei Arten von Hypothesen: Natürliche, die unmittelbar der Anschauung entspringen, indifferente, welche nützliche Voraussetzungen schaffen ohne das Ergebnis zu beeinflussen und die wirklichen Verallgemeinerungen. Die Rolle der Mathematik in der Physik begründet Poincaré, ausgehend von der (unterstellten) Homogenität der Natur, aus der Zerlegung der Phänomene in eine große Zahl kleinerer Phänomene (nach Zeit, Raum oder Teilbewegung), deren Überlagerung mit mathematischer Methode beschrieben werden kann. Wie in den anderen Abschnitten verdeutlicht Poincaré seine Position mit Historie, hier mit einer Theoriegeschichte zu Licht, Elektrizität und Magnetismus, bis zur „befriedigenden“ Lorentzschen Theorie dazu. Eingearbeitet ist noch ein Kapitel zur Wahrscheinlichkeitstheorie, und wie diese – eine damals in der Physik neu verwandte Methode – (philosophisch betrachtet) möglich ist. Sie wird nach Poincaré da eingesetzt, wo Unwissenheit im Spiel ist: Bei Unwissenheit vom Anfangszustand und Kenntnis vom Naturgesetz zur Zustandsbeschreibung eines Systems, zur Theorienbildung selbst und in der Fehlertheorie. Grundlage ist in jedem Fall der Glaube eine Stetigkeit der Phänomene. Das Werk schließt damit, die aktuellen Positionen zur Existenz von Materie vorzutragen, den damaligen Theoriestand zu Elektronen und Äther. Ausführliche Anmerkungen präsentieren dem interessierten Leser das Vorgetragene in tieferer mathematischer Darstellung.

Auzeichnungen

Hauptwerke

  • Oeuvre, 10 Bde., Gauthier-Villars, Paris, 1916-1954
  • Letzte Gedanken. Xenomos Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-936532-27-3 (Repr. d. Ausg. Leipzig 1913)
  • Wissenschaft und Methode (engl. Science and Method). Xenomos Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-936532-31-1 (Repr. d. Ausg. Berlin 1914)
  • Wert der Wissenschaft (engl. The Value of Science). Xenomos Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-936532-23-0 (Repr. d. Ausg. Leipzig 1921)
  • Wissenschaft und Hypothese. Xenomos Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-936532-24-9 (Repr. d. Ausg. Berlin 1928)

Sekundärliteratur

  • Jean Dieudonne, Artikel Poincare in Dictionary of Scientific Biography
  • Olivier Darrigol (2004) „The Mystery of the Einstein-Poincare Connection“, Isis 95 (4), 614 - 626.
  • Peter Galison: Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit. Fischer, Frankfurt/M. 2003, ISBN 3-10-024430-3.
  • Jules Leveugle, La Relativité, Poincaré et Einstein, Planck, Hilbert, Paris 2004.
  • Elie Zahar: Poincaré's philosophy. From conventionalism to phenomenology.Open Court, Chicago, Ill. 2001, ISBN 0-8126-9435-X.
  • June Barrow-Green Poincare and the 3 Body Problem, 1997

Siehe auch