Geheimes Markusevangelium

Das Geheime Markus-Evangelium (Secret Mark oder kurz SecMark), eine Textvariante zum heutigen Markus-Evangelium, ist uns nur in zwei Fragmenten überliefert, die sich beide in einem Clemens von Alexandria (ca. 150-215) zugeschriebenen Brief finden.

Der Brief wurde 1958 von Professor Morton Smith im Kloster von Mar Saba entdeckt. Es handelt sich um die von einem Mönch verfasste und nicht vollständig erhaltene Abschrift aus dem 18. Jahrhundert von einem sonst nicht bezeugten Briefs von Clemens von Alexandria an einen unbekannten Theodorus.

Inhalt des Briefs

Aus dem Brief geht hervor, dass Theodorus Clemens vorgängig wegen einiger angeblicher Markus-Zitate, die die Karpokrater verbreiteten, befragt hat.

Clemens schreibt, Markus habe in Alexandria ein erweitertes Evangelium verfasst, dass in der Bibliothek von Alexandria aufbewahrt würde:

[Solchermaßen] verfaßte [Markus] ein geistigeres Evangelium zum Gebrauch für jene, die eben vervollkommnet wurden. Desungeachtet enthüllte er nicht die nicht zu verbreitenden Dinge, noch schrieb er die hierophantische Lehre des Herrn nieder, sondern fügte den schon geschriebenen Geschichten noch andere hinzu und brachte überdies gewisse Aussprüche hinein, von denen er wußte, daß ihre Interpretation als ein Mystagogen die Hörer in das innerste Heiligtum jener Wahrheit führen würde, die von sieben [Schleiern] verhüllt ist. So bestimmte er insgesamt, meiner Meinung nach, weder ungern noch unvorsichtig, die Dinge vorher und hinterließ sterbend sein Werk der Kirche in Alexandria, wo es noch heute aufs sorgfältigste behütet und nur denen vorgelesen wird, die in die großen Geheimnisse eingeweiht werden.

Gleichwohl sei Karpokrates, der Anführer einer gnostisch-christlichen Sekte, unter Anwendung hinterlistiger magischer Künste in den Besitz einer Kopie gelangt und beschmutze nun die "makellosen und heiligen Worte", indem er ihnen "äußerst schamlose Lügen" beimenge. Und wenn nun die Karpokrater ihr verfälschtes Werk zeigen, soll man unter Eid verneinen, dass das das Geheime Evangelium des Markus sei - auch wenn es Teile dieses Evangeliums enthalte.

Da aber die unreinen Geister immer auf die Zerstörung der Rasse der Menschen sinnen, machte sich Karpokrates, von ihnen unterrichtet und hinterlistige magische Künste gebrauchend, einen gewissen Presbyter der Kirche in Alexandria so gefügig, daß er von ihm eine Abschrift des Geheimen Evangeliums bekam, das er seiner blasphemischen und fleischlichen Doktrin entsprechend auslegte und es darüber hinaus beschmutzte, indem er den makellosen und heiligen Worten äußerst schamlose Lügen beimengte. Aus dieser Mischung sind die Lehren der Karpokratianer abgezogen. Ihnen darf man daher, wie ich oben sagte, nie nachgeben, noch auch sollte man, wenn sie ihre Fälschungen herausstellen, ihnen zugeben, daß das Geheime Evangelium von Markus ist, sondern sollte es sogar unter Eid verneinen. "Nicht alles Wahre muß allen Menschen gesagt werden."

Nun zitiert Clemens dieses geheime Evangelium Wort für Wort im Originaltext, der zwischen Mk 10,34 und 35 und eingefügt sei:

"Und sie kamen nach Betanien. Und eine gewisse Frau, deren Bruder gestorben war, befand sich dort. Und während sie ihm entgegenkam, warf sie sich vor Jesus nieder und sagte zu ihm: 'Sohn Davids, hab Gnade mit mir.' Aber die Jünger rügten sie. Und Jesus, der verärgert war, ging mit ihr weg in den Garten, in welchem das Grab war, und ging gleich hinein, wo der Jugendliche war, streckte seine Hände aus und erhob den Jugendlichen, indem er dessen Hände ergriff. Aber der Jugendliche blickte ihn an und liebte ihn und begann ihn zu ersuchen, dass er mit ihm sein möge. Und das Grab verlassend, kamen sie in das Haus des Jugendlichen, denn er war reich. Und nach sechs Tagen sagte ihm Jesus, was zu tun wäre, und am Abend kam der Jugendliche zu ihm, ein Leinentuch um seinen nackten Körper. Und verbrachte die Nacht mit ihm, denn Jesus lehrte ihn das Geheimnis des Reichs Gottes. Und nachdem er aufgestanden war, kehrte er von dort auf die andere Seite des Jordan zurück."

Anschließend weist er darauf hin, dass die Worte "nacker Mann mit nacktem Mann" und die anderen Dinge, von denen Theodorus schrieb, da nicht vorhanden seien.

Außerdem füge das geheime Evangelium den Worten "Und er kommt nach Jericho" [in Mk 10,46] noch Folgendes hinzu:

"Und die Schwester des Jünglings, den Jesus liebte, und seine Mutter und Salome waren dort, und Jesus empfing sie nicht".
Aber die vielen anderen [Dinge, über] die du schriebst, scheinen falsch zu sein und sind Fälschungen.
Nun, die wahre Erklärung und das, was mit der wahren Weisheit übereinstimmt...

Hier bricht der Bericht mitten auf der Seite ab.

Forschungsdiskussion

Der Bericht über den neu gefundene Clemens-Brief und die von Morton Smith daraus gezogenen provokativen Folgerungen wurden von der etablierten Forschung mit äusserster Skepsis aufgenommen. Einige Autoren gingen so weit, den Brief sogar als Fälschung von Morton Smith zu bezeichnen. Heute haben sich die Emotionen ziemlich gelegt, die Meinungen gehen jedoch in einigen Punkten immer noch weit auseinander.

Echtheit des Manuskripts

Das Manuskript stammt von einem Mönch des 18. Jahrhunderts. Das ist heute praktisch unbestritten. Es soll sich seit 1977 in der Bibliothek des Griechischen Patriarchats in Jerusalem befinden, seine Existenz wird nicht angezweifelt, auch wenn es seit Jahrzehnten nicht mehr zugänglich war.

Autorschaft von Clemens von Alexandria

Die linguistischen Analyse weist deutlich darauf hin, dass es sich um einen echten Brief des Clemens von Alexandria handelt. Andererseits haben verschiedene Autoren inhaltliche Diskrepanzen zum sonstigen Werk des Clemens festgestellt. Die meisten Autoren nehmen aufgrund der linguistischen Analyse an, dass der Brief echt ist.

Allerdings beweist die Echtheit des Briefes noch nicht alles, was Clemens über das geheime Evangelium sagt. Auch wenn es glaubhaft ist, dass Clemens ein entschiedener Gegner der gnostischen Ketzer und selbst von der Echtheit dieses geheimen Markus-Evangeliums überzeugt war, stellt sich die Frage, wie weit man sich da auf sein Urteil verlassen kann. Bei anderen Texten hat sich Clemens nach heutigem Wissen sehr getäuscht, beispielsweise sagt er die apokryphischen "Predigten von Petrus" und die "Apokalypse des Petrus" seien von Petrus selbst geschrieben und erklärt auch andere apokryphische Texte für authentisch, die zeitgenössische Theologen als nicht-kanonisch ablehnen. Seine übrigen Schriften zeigen auch, dass er sehr viel für Geheimnisse, esoterische Lehren und mystische Erfahrungen übrig hatte.

Einordnung des geheimen Markus-Evangeliums

Gemäß den Zitaten im Clemens-Brief handelt es sich bei dem geheimen Markus-Evangelium um eine erweiterte Form des kanonischen Evangeliums.

Dass es eine erweiterte Version gegeben hat, ist heute ziemlich unbestritten. Ob es sich bei diesem geheimen Markus-Evangelium um eine ältere oder jüngere Fassung des kanonischen Evangeliums handelt, ist bis heute offen, und in diesem Punkt sind die Meinungen sehr unterschiedlich.

Aus der Echtheit des Briefs kann allerdings nur sicher geschlossen werden, dass um 170 n. Chr. in einer Bibliothek in Alexandria eine verglichen mit dem heutigen Text expandierte Version des Markus-Evangeliums existierte, von der eine weitere Version existierte, die von Karpokrates falsch ausgelegt und in seinem Sinn ergänzt worden war.

Eine Urform des Evangeliums

Eine Gruppe geht davon aus, dass das geheime Markus-Evangelium älter ist als das kanonische Evangelium, welches eine gekürzte Form des geheimen Evangeliums darstellt: Helmut Koester z.B. hat zwei Studien publiziert die argumentieren, dass sich Markus nach und nach entwickelt habe. Zuerst der Ur-Markus, den Matthäus und Lukas verwendet hätten. Danach wurde der Original-Markus publiziert, die Version, die die alexandrinische Kirche besaß (und aus dieser dann die gnostifizierte Version von Karpokrates). Bald darauf oder gleichzeitig wurde eine gekürzte Version von Markus weithin publiziert und wurde das kanonische Markus-Evangelium. Der Ur-Markus ist, ebenso wie Q nicht erhalten geblieben. Dominic Crossan in The Historical Jesus: "Die zweite Version von Markus strich diese Stellen, ließ aber ihre textlichen Überreste, die im Text verstreut waren, bestehen. Das dürfte etwa am Ende der 70er geschehen sein."

Diese These beruft sich auf zwei Stellen im kanonischen Markus-Evangelium. So heißt es dort anlässlich der Festnahme von Jesus Christus durch die Hohepriester:

"Ein junger Mann aber, der nur mit einem leinenen Tuch bekleidet war, wollte [Jesus] nachgehen. Da packten sie ihn; er aber ließ das Tuch fallen und lief nackt davon." (Mk 14,50-52)

Die an sich unverständliche Schilderung der Tatsache, dass der junge Mann, der Jesus zu folgen versuchte, nur mit einem Leinentuch bekleidet war, ergibt, wenn man die sehr ähnliche Passage aus dem geheimen Evangelium hinzunimmt, auf einmal einen intertextuellen Sinn. Es handelt sich demnach um den Jüngling, den Jesus zuvor in Betanien von den Toten auferweckt hatte (nach Joh 12,1 also um Lazarus).

Ebenso kann der abrupte Übergang in Mk 10,46 (im ersten Satz kommen die Jünger nach Jerusalem, im zweiten Satz verlassen sie es bereits wieder) mit Hilfe des geheimen Evangeliums als Folge einer Kürzung erklärt werden.

Gegen diese These wird eingewandt, dass der kürzere von zwei Bibeltexten meistens auch der ältere ist. Die Schrumpfung des Markus-Evangeliums könnte sich jedoch der Zensur von solchen Stellen verdanken, die nicht mit der späteren kirchlichen Lehre übereinstimmten. So verurteilt etwa Paulus in seinem Römerbrief die gleichgeschlechtliche Begierde zwischen Männern (Röm 1,27). Dies mag der Grund sein, warum das längere der beiden oben zitierten Fragmente von den Kirchenvätern gestrichen wurde. Die Streichung des kürzeren Fragments würde sich vielleicht aus der Erwähnung Salomes erklären lassen. Laut den Schriftfunden von Nag Hammadi wurde Salome von den Gnostikern als eine weibliche Jüngerin angesehen. Da aber nach Ansicht von Paulus die Frauen in den christlichen Gemeinden zu schweigen haben (1.Kor 14,34), ist es gut möglich, dass man Salomes Bedeutung im Markus-Evangelium durch Herausnahme verschiedener Passagen zu schmälern versuchte.

Eine Erweiterung des kanonischen Evangeliums

Eine andere Gruppe geht davon aus, dass es sich bei dem geheimen Evangelium um eine spätere Version des kanonischen Evangeliums handelt, das bereits in gnostischer Richtung erweitert wurde (Robert H. Gundry, 1993, N.T. Wright, 1996). Gerd Theissen schreibt in "Der historische Jesus" (2001): "Die Mehrheit der Ausleger sieht das geheime Evangelium als eine gnostische Revision des kanonischen Markus, die im zweiten Jahrhundert verfasst wurde. Dies wird unterstützt durch die Betonung ihres 'geheimen' Charakters und seinen Gebrauch in karpokratischen Kreisen, die es offensichtlich verwendeten, um bestimmte liturgische Gebräuche zu legitimieren." Klaus Berger datiert das geheime Evangelium auf etwa 130.

Eine weitere verbreitete Meinung ist auch, dass es sich um eine so genannte Pastiche handle, also eine Zusammenstellung von Texten aus verschiedenen Evangelien unter möglicher Verwendung von älterem Material.

Die These von der nachträglichen Expansion kann allerdings nicht erklären, warum die Begebenheit in Mk 14,50-52 ohne die Passage des geheimen Evangeliums völlig sinnlos und der Übergang in Mk 10,46 äußerst abrupt wirken.

Umstrittene Thesen

Die von Smith publizierten Schlußfolgerungen in seinen Büchern "The secret Gospel: The discovery and interpretation of the secret Gospel according to Mark" (1974) und "Jesus the Magician" (1981) werden von der großen Mehrheit der Forscher abgelehnt.

Von den verstreuten Andeutungen in den kanonischen Evangelien und dem geheimen Markus-Evangelium können wir uns ein Bild machen von der Taufe von Jesus, dem "Geheimnis des Reiches Gottes". Es war eine Wassertaufe, die Jesus bei ausgewählten Jüngern vollzog, einzeln und des Nachts. Der Jünger trug dabei ein leinenes Tuch über dem nackten Körper. Dieses Tuch wurde wahrscheinlich für die eigentliche Taufe, das Eintauchen ins Wasser, entfernt. Dieses Eintauchen war eine vorbereitende Reinigung. Danach wurde der Jünger durch unbekannte Zeremonien mit dem Geist von Jesus vereinigt. Eins mit Jesus, nahm er so durch Halluzination an dessen Aufstieg in den Himmel teil, er trat ins Reich Gottes ein und wurde dadurch von den Gesetzen der niedrigeren Welt befreit. Freiheit vom Gesetz könnte die Vollendung der geistigen Vereinigung durch eine körperliche Vereinigung gewesen sein. Das geschah sicher in vielen Formen des gnostischen Christentums. Wie früh es begann, lässt sich nicht sagen. Morton Smith, The Secret Gospel (1974)

Eine radikalere Interpretation im Internet zog den Schluss, dass Jesus und der unbekannte junge Mann in der Nacht eine sexuelle Beziehung eingegangen wären. [1] Die Implikation war, dass Jesus entweder homosexuell oder bisexuell orientiert gewesen sei. Allerdings ist diese Interpretation als anachronistisch zu bezeichnen, da das Altertum über das heutige psychologische Konzept der sexuellen Orientierung gar nicht verfügte. In der Antike haben geschlechtliche Handlungen zwischen zwei Männern nicht dazu geführt, diese als anders bzw. als "schwul" einzuordnen.

In den Achtzigerjahren wurde das apokryphe Markus-Evangelium von der Adidam, einer für viele sexuelle Varianten offenen kalifornischen religiösen Gruppe in Hindu-Tradition vereinnahmt und publiziert. Der Guru der Bewegung meinte, Smith habe in diesem Brief das Herz-Meister-Da entdeckt, eine alte Bestätigung, dass auch Jesus ein Geisttäufer gewesen sei, der Jünger in den echten spirituellen Yoga-Vorgang eingeweiht habe.

Literatur

  • Morton Smith: Clement of Alexandria and a Secret Gospel of Mark. Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1973 (wissenschaftlich)
  • Morton Smith: Auf der Suche nach dem historischen Jesus. Ullstein, Frankfurt/M. 1973/74 (populär)


Siehe auch: Apokryphen - Evangelium nach Markus - Lazarus - Salome (Jüngerin) - Homosexualität im Neuen Testament