Geheimes Markusevangelium

Das Geheime Markus-Evangelium (Secret Mark oder kurz SecMark), eine Textvariante zum heutigen Markus-Evangelium, ist uns nur in zwei Fragmenten überliefert, die sich beide in einem Clemens von Alexandria (ca. 150-215) zugeschriebenen Brief finden.

Der Brief wurde 1958 von Professor Morton Smith im Kloster von Mar Saba entdeckt. Aufgrund einer genauen linguistischen Analyse des Briefs wird die Autorschaft von Clemens in der Wissenschaft heute kaum noch angezweifelt.

Inhalt des Briefs

Laut Clemens wurde das Geheime Markus-Evangelium in der Bibliothek von Alexandria aufbewahrt und streng bewacht. Gleichwohl sei Karpokrates, der Anführer einer gnostisch-christlichen Sekte, unter Anwendung hinterlistiger magischer Künste in den Besitz einer Kopie gelangt und beschmutze nun die "makellosen und heiligen Worten", indem er ihnen "äußerst schamlose Lügen" beimenge.

Mit diesen Ausführungen leitet Clemens seine Antwort auf Theodoros ein, der ihm offenbar berichtet hatte, dass die Karpokratianer aus dem geheimen Evangelium eine Stelle zu zitieren pflegten, wonach Jesus nackt mit einem Mann zusammengelegen habe. Um diese Behauptung zu widerlegen, zitiert Clemens nun den originalen Wortlaut der betreffenden Stelle im geheimen Evangelium:

"Und sie kamen nach Betanien. Und eine gewisse Frau, deren Bruder gestorben war, befand sich dort. Und während sie ihm entgegenkam, warf sie sich vor Jesus nieder und sagte zu ihm: 'Sohn Davids, hab Gnade mit mir.' Aber die Jünger rügten sie. Und Jesus, der verärgert war, ging mit ihr weg in den Garten, in welchem das Grab war, und ging gleich hinein, wo der Jugendliche war, streckte seine Hände aus und erhob den Jugendlichen, indem er dessen Hände ergriff. Aber der Jugendliche blickte ihn an und liebte ihn und begann ihn zu ersuchen, dass er mit ihm sein möge. Und das Grab verlassend, kamen sie in das Haus des Jugendlichen, denn er war reich. Und nach sechs Tagen sagte ihm Jesus, was zu tun wäre, und am Abend kam der Jugendliche zu ihm, ein Leinentuch um seinen nackten Körper. Und verbrachte die Nacht mit ihm, denn Jesus lehrte ihn das Geheimnis des Reichs Gottes. Und nachdem er aufgestanden war, kehrte er von dort auf die andere Seite des Jordan zurück."

Nach Clemens Angaben findet sich diese Passage genau zwischen den beiden Versen 10,34 und 10,35 des heutigen Markus-Evangeliums. Außerdem füge das geheime Evangelium den Worten "Und er kommt nach Jericho" [in Mk 10,46] noch Folgendes hinzu:

"Und die Schwester des Jünglings, den Jesus liebte, und seine Mutter und Salome waren dort, und Jesus empfing sie nicht".

Alles andere aber, wovon Theodoros ihm berichtet hatte, sei eine Fälschung des Karpokrates, der das geheime Evangelium "seiner blasphemischen und fleischlichen Doktrin entsprechend" auslege. Um einen weiteren Missbrauch des geheimen Evangeliums durch die gnostischen Irrlehren zu verhindern, fordert Clemens Thedoros schließlich zum Meineid auf:

"Daher darf man ihnen, wie ich zuvor sagte, niemals nachgeben, noch sollte man eingestehen, wenn sie ihre Fälschungen vorbringen, dass das geheime Evangelium von Markus ist; vielmehr sollte man es sogar unter Eid bestreiten."

Clemens rechtfertigt seinen Entschluss zur Unterdrückung des geheimen Evangeliums damit, dass "nicht alles Wahre allen Menschen gesagt werden" müsse. Denn nicht alle wahren Dinge seien auch "gemäß dem Glauben wahr".

Dennoch schätzte Clemens das geheime Evangelium als spirituellere Fassung des "offiziellen" Markus-Evangeliums, wenn auch nur für diejenigen, die in die Mysterien des Glaubens bereits eingeweiht waren. Die Existenz eines zweiten, verborgenen Evangeliums erklärt er Theodoros wie folgt:

"[Solchermaßen] verfaßte [Markus] ein geistigeres Evangelium zum Gebrauch für jene, die eben vervollkommnet wurden. Desungeachtet enthüllte er nicht die nicht zu verbreitenden Dinge, noch schrieb er die hierophantische Lehre des Herrn nieder, sondern fügte den schon geschriebenen Geschichten noch andere hinzu und brachte überdies gewisse Aussprüche hinein, von denen er wußte, daß ihre Interpretation als ein Mystagogen die Hörer in das innerste Heiligtum jener Wahrheit führen würde, die von sieben [Schleiern] verhüllt ist. So bestimmte er insgesamt, meiner Meinung nach, weder ungern noch unvorsichtig, die Dinge vorher und hinterließ sterbend sein Werk der Kirche in Alexandria, wo es noch heute aufs sorgfältigste behütet und nur denen vorgelesen wird, die in die großen Geheimnisse eingeweiht werden."

Forschungsdiskussion

Wegen des brisanten Inhalts des geheimen Evangeliums wurde seine Existenz lange Zeit in Abrede gestellt. Jedoch klärt es einige merkwürdige Inkonsistenzen im Markus-Evangelium auf. So heißt es dort anlässlich der Festnahme von Jesus Christus durch die Hohepriester:

"Ein junger Mann aber, der nur mit einem leinenen Tuch bekleidet war, wollte [Jesus] nachgehen. Da packten sie ihn; er aber ließ das Tuch fallen und lief nackt davon." (Mk 14,50-52)

Die an sich unverständliche Schilderung der Tatsache, dass der junge Mann, der Jesus zu folgen versuchte, nur mit einem Leinentuch bekleidet war, ergibt, wenn man die sehr ähnliche Passage aus dem geheimen Evangelium hinzunimmt, auf einmal einen intertextuellen Sinn. Es handelt sich demnach um den Jüngling, den Jesus zuvor in Betanien von den Toten auferweckt hatte (nach Joh 12,1 also um Lazarus).

Ebenso kann der abrupte Übergang in Mk 10,46 (im ersten Satz kommen die Jünger nach Jerusalem, im zweiten Satz verlassen sie es bereits wieder) mit Hilfe des geheimen Evangeliums als Folge einer Kürzung erklärt werden.

Aufgrund dieser Zusammenhänge gehen zahlreiche Forscher davon aus, dass das geheime Evangelium eine ältere Fassung des Markus-Evangeliums darstellt und dass die heutige Fassung aus einer Streichung verschiedener Passagen hervorgegangen ist.

Anderer Forscher vertreten dagegen, genau umgekehrt, den Standpunkt, dass die zusätzlichen Stellen des geheimen Evangeliums so genannte Pastichen seien, d.h. nachträgliche Hinzufügungen, die aus verschiedenen Stellen der vier Evangelien unter Verwendung von älterem, uns nicht bekanntem Material zusammenkonstruiert wurden. Dies entspräche der Beobachtung, dass die heiligen Schriften im Laufe ihrer Bearbeitungszeit eher gewachsen als geschrumpft sind. Danach würde das geheime Evangelium nicht eine ältere, sondern vielmehr eine jüngere Fassung des Markus-Evangeliums darstellen.

Allerdings kann der letztgenannte Ansatz nicht erklären, warum die Begebenheit in Mk 14,50-52 ohne die Passage des geheimen Evangeliums völlig sinnlos und der Übergang in Mk 10,46 äußerst abrupt wirkt. Die Vertreter der ersten These halten deshalb dagegen, dass sich die mögliche Schrumpfung des Markus-Evangeliums einer Zensur von solchen Stellen verdankt, die nicht mit der späteren kirchlichen Lehre übereinstimmten. So verurteilt Paulus in seinem Römerbrief die gleichgeschlechtliche Begierde zwischen Männern (Röm 1,27). Dies könnte der Grund sein, warum das längere der beiden oben zitierten Fragmente von den Kirchenvätern gestrichen wurde. Die Streichung des kürzeren Fragments würde sich vielleicht aus der Erwähnung Salomes erklären lassen. Laut den Schriftfunden von Nag Hammadi wurde Salome von den Gnostikern als eine weibliche Jüngerin angesehen. Da aber nach Ansicht des Apostels Paulus die Frauen in den christlichen Gemeinden zu schweigen hätten (1.Kor 14,34), könnte es sein, dass Salomes Bedeutung im Markus-Evangelium rückwirkend geschmälert wurde.

Ein dritter Ansatz wird in der Bibelwissenschaft von jenen vertreten, die das geheime Evangelium für ein gnostisches Werk des frühen zweiten Jahrhunderts halten. Einige wenige gehen sogar davon aus, die Gnostiker hätten den Clemens-Brief gefälscht, um sich gegenüber der christlichen Hauptkirche zu rechtfertigen, welche sie wegen ihrer "fleischlichen Doktrin" (Clemens) für verdammenswerte Häretiker hielt. Für diesen Ansatz spricht, dass die Existenz des geheimen Evangeliums bisher einzig vom Clemens-Brief bezeugt ist. Dagegen sprechen jedoch die hohe sprachliche Authentizität des Briefes und die intertextuellen Argumente, die schon gegen den zweiten Ansatz angeführt wurden. Darüber hinaus lassen sich die beiden Fragmente auch nicht dem Stil der anderen apokryphen Evangelien zuordnen, die von den Gnostikern im zweiten Jahrhundert verfasst wurden. Von den drei Ansätzen ist dieser daher der unwahrscheinlichste.

Die Debatte um den Stellenwert des Geheimen Markus-Evangeliums ist also auch mehr als 40 Jahre nach der Entdeckung des Clemens-Briefs nicht abgeschlossen. Mögliche Konsequenzen, wie etwa die Aufnahme der beiden Fragmente in den Text des Neuen Testaments, sind unter Theologen und Bibelwissenschaftlern heftig umstritten.

Literatur

  • Morton Smith: Clement of Alexandria and a Secret Gospel of Mark. Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1973 (wissenschaftlich)
  • Morton Smith: Auf der Suche nach dem historischen Jesus. Ullstein, Frankfurt/M. 1973/74 (populär)


Siehe auch: Apokryphen - Evangelium nach Markus - Lazarus - Salome (Jüngerin) - Homosexualität im Neuen Testament