Geheimes Markusevangelium

Das Geheime Markus-Evangelium (Secret Mark oder kurz SecMark) ist uns nur in zwei Fragmenten überliefert, die sich beide in einem Clemens von Alexandria zugeschriebenen Brief finden. Es handelt sich um Passagen, die aus dem heutigen Markus-Evangelium getilgt worden sein sollen und dort ihre genaue Stelle haben.

Laut einem Clemens von Alexandria zugeschriebenen Brief, soll das Markus-Evangelium ursprünglich eine andere Fassung gehabt haben, die in der Bibliothek von Alexandria verborgen gehalten worden sei. Clemens zitiert daraus einen längeren Abschnitt, in dem die Geschichte der Erweckung eines jungen Mannes von den Toten erzählt wird. [1]. Gemäss diesem Text habe sich der dort namentlich nicht genannte Lazarus nach seiner Auferweckung Jesus erblickt und ihn geliebt und ihn gebeten, bei ihm bleiben zu dürfen, und sei sechs Tage später mit einem "Leinentuch um seinen nackten Körper" zu ihm ugekommen und hätte schließlich die Nacht mit ihm verbracht, denn Jesus habe ihn das Geheimnis des Reiches Gottes gelehrt. Der Text sei gemäss Clemens vom Gnostiker Karpokrates nach seiner lästerlichen und fleischlichen Lehre interpretiert und durch schamlose Lügen entstellt worden.

In den übrigen Texten der Kirchenväter und ihrer Diskussion des Kanons ist ein solches Evangelium nicht erwähnt.

Der Brief wurde 1958 von Professor Morton Smith im Kloster von Mar Saba entdeckt. Das Original des Briefes ist verschwunden, es existieren nur Photographien, das Alter lässt sich also papyrologisch nicht feststellen.

In den Achtzigerjahren wurde das apokryphe Markus-Evangelium von der Adidam, einer für viele sexuelle Varianten offenen kalifornischen religiösen Gruppe in Hindu-Tradition vereinnahmt und publiziert. Der Guru der Bewegung meinte, Smith habe in diesem Brief das Herz-Meister-Da entdeckt, eine alte Bestätigung, dass auch Jesus ein Geisttäufer gewesen sei, der Jünger in den echten spirituellen Yoga-Vorgang eingeweiht habe.

Die Schlüsse, die Smith und verschiedene Autoren aus diesem Dokument ziehen, sind unter Theologen heiß umstritten.

Forschungsdiskussion

Einige katholische Bibelwissenschaftler behaupten, dass es sich bei dem Brief um eine Fälschung handle, die irgendwann zwischen dem 2. und dem 18. Jahrhundert angefertigt worden sei. Die Bezüge zu anderen Passagen in der Bibel, so auch zu Joh 12,1-2, seien absichtlich eingebaut worden, um der Fälschung Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Jedoch gibt es keine konkreten Belege für diese These. Der sprachliche Stil des Clemens-Briefs und der darin zitierten Verse weisen vielmehr auf seine Authentizität. Geht man von der Fälschungsthese aus, stellt sich auch die Frage, warum sich jemand in alter Zeit die Mühe gemacht haben sollte, einen Clemens-Brief in einer solch formvollendeten Weise zu fälschen.

Wie auch immer man diese Frage beantwortet: Angesichts der Brisanz dieses Briefes, der die katholische Lehre von der Sündhaftigkeit homosexuellen Verhaltens in Frage zu stellen droht, ist mit einem baldigen Ende dieser nun schon 40-jährigen Debatte nicht zu rechnen.

Siehe auch: Apokryphen -- Homosexualität im Neuen Testament: Markus


Verschoben von Homosexualität im Neuen Testament - hier einzuarbeiten

Neben den vier Evangelien, die ins Neue Testament aufgenommen wurden, gibt es eine Reihe von weiteren Evangelien, die von den frühen Christen ihres Inhalts wegen versteckt und nicht zum öffentlichen Vortrag im Gottesdienst zugelassen wurden. Entsprechend dem griechischen Wort für "verbergen" (apokryphein) heißen sie daher auch Apokryphen (näheres siehe dort).

In einem Brief an Theodoros, der Clemens von Alexandria (ca. 150-215) zugeschrieben wird, berichtet dieser von einer Erstfassung des Markus-Evangeliums, die in der Bibliothek von Alexandria verwahrt und streng bewacht wurde. Gleichwohl gelangten die Karpokratianer – eine gnostische Sekte, die wegen ihrer Sinnenfreude von den Kirchenvätern für häretisch gehalten wurde – in den Besitz einer Kopie dieses Evangeliums. Daraus pflegten sie eine Stelle zu zitieren, derzufolge Jesus nackt mit einem Mann zusammengelegen habe. Da Clemens der Ansicht war, dass sie den Wortlaut des Evangeliums verfälschten, zitiert er gegenüber Theodoros die Originalpassage:

"Und sie kamen nach Betanien. Und eine gewisse Frau, deren Bruder gestorben war, befand sich dort. Und während sie ihm entgegenkam, warf sie sich vor Jesus nieder und sagte zu ihm: 'Sohn Davids, hab Gnade mit mir.' Aber die Jünger rügten sie. Und Jesus, der verärgert war, ging mit ihr weg in den Garten, in welchem das Grab war, und ging gleich hinein, wo der Jugendliche war, streckte seine Hände aus und erhob den Jugendlichen, indem er dessen Hände ergriff. Aber der Jugendliche blickte ihn an und liebte ihn und begann ihn zu ersuchen, dass er mit ihm sein möge. Und das Grab verlassend, kamen sie in das Haus des Jugendlichen, denn er war reich. Und nach sechs Tagen sagte ihm Jesus, was zu tun wäre, und am Abend kam der Jugendliche zu ihm, ein Leinentuch um seinen nackten Körper. Und verbrachte die Nacht mit ihm, denn Jesus lehrte ihm das Geheimnis des Reichs Gottes. Und nachdem er aufgestanden war, kehrte er von dort auf die andere Seite des Jordan zurück."

Diese Stelle ist nicht nur deshalb als authentisch zu betrachten, weil sie ihr Äquivalent in der im Johannes-Evangelium berichteten Geschichte von der Wiedererweckung des Lazarus von den Toten hat (Joh 12,1). Vielmehr hinterließ diese offenkundig gelöschte Passage auch in der Endfassung des Markus-Evangeliums eine verräterische Spur. So heißt es in Mk 14,50-52, wo die Festnahme von Jesus Christus durch die Hohepriester beschrieben wird:

"Ein junger Mann aber, der nur mit einem leinenen Tuch bekleidet war, wollte [Jesus] nachgehen. Da packten sie ihn; er aber ließ das Tuch fallen und lief nackt davon."

Es ist dies eine jener Stellen im Neuen Testament, deren Bedeutung erst durch die Kenntnis der Apokryphen verständlich wird. Die Erwähnung der Tatsache, dass der junge Mann nur mit einem Leinentuch über dem nackten Körper bekleidet war, diente sehr wahrscheinlich zur Identifizierung des Mannes, ergibt aber ohne seine vorausgehende Erwähnung in der gelöschten Passage, die ursprünglich zwischen Mk 10,34 und Mk 10,35 zu finden war, keinen Sinn mehr.

Bei dem geheimen Markus-Evangelium habe es sich demnach um eine unzensierte Fassung des uns heutigen Markus-Evangeliums gehandelt. Es wurde vor den Augen der christlichen Gemeinden versteckt, weil es das Bild des asketischen Gottessohnes diskreditiert hätte, das die Kirchenväter von ihm zu zeichnen versuchten. Hinzu kommt, dass Paulus die sexuelle Begierde zwischen Männern als besonders verwerflich betrachtete. Aus diesem Grund fordert Clemens Theodoros sogar zum Meineid auf, um den Karpokratianern nicht zugestehen zu müssen, dass sie über ein authentisches Evangelium verfügen:

"Daher darf man ihnen, wie ich zuvor sagte, niemals nachgeben, noch sollte man eingestehen, wenn sie ihre Fälschungen vorbringen, dass das geheime Evangelium von Markus ist; vielmehr sollte man es sogar unter Eid bestreiten."

Denn nicht alle wahren Dinge dürften allen Menschen gesagt werden, noch seien alle wahren Dinge auch "gemäß dem Glauben wahr", so Clemens zu seiner Rechtfertigung. Wie auch immer man diese Stelle bewertet, das Gerücht, dass Jesus fleischliche Beziehungen zu Männern gehabt und die Kirche dies mit allen Mitteln zu verbergen versucht habe, dürfte mit diesem 1958 von Professor Morton Smith im Kloster von Mar Saba entdeckten Brief [2] neue Nahrung erhalten haben.

Aufgrund der Brisanz seiner Entdeckung wurde Smith in den 70er und frühen 80er Jahren von katholischen Wissenschaftlern entweder ignoriert oder grundlos der Fälschung beschuldigt. [3] Auch heute weigern sich die verschiedenen Bibelausgaben beharrlich, das Fragment wieder an seinen ursprünglichen Ort einzufügen. Manchmal wird dabei auf die Möglichkeit verwiesen, dass es sich bei dem von Mönchen zuletzt im 18. Jahrhundert abgeschriebenen Manuskript um eine historische Fälschung handeln könnte. Der authentische Stil sowohl des Clemens-Briefes als auch der darin zitierten Verse des Evangelisten Markus spricht jedoch gegen eine solche Annahme.