„Bronisław Wildstein“ – Versionsunterschied

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'''Bronisław Wildstein''' (* [[11. Juni]] [[1952]] in [[Olsztyn]], [[Polen]]) ist ein ehemaliger polnischer Oppositioneller, [[Journalist]] und Schriftsteller. Vom 11. Mai 2006 bis zum 27. Februar 2007 war er Geschäftsführer des öffentlich-rechtlichen Fernsehen ([[Telewizja Polska]]) in Polen.
'''Bronisław Wildstein''' (* [[11. Juni]] [[1952]] in [[Olsztyn]], [[Polen]]) ist ein ehemaliger polnischer Oppositioneller, [[Journalist]] und Schriftsteller. Vom 11. Mai 2006 bis zum 27. Februar 2007 war er Geschäftsführer des öffentlich-rechtlichen Fernsehen ([[Telewizja Polska]]) in Polen.


Landesweit bekannt wurde er Ende Januar 2005, als er eine Liste mit den Namen von ehemaligen Mitarbeitern und Opfern des polnischen [[Ministerium für Staatssicherheit|Stasi]]-Gegenstücks ''[[Służba Bezpieczeństwa]]'' (SB, „Sicherheitsdienst“) aus dem [[Institut für Nationales Gedenken]] sich heimlich beschaffte und in Umlauf brachte.
Landesweit bekannt wurde er Ende Januar 2005, als er eine Liste mit den Namen von ehemaligen Mitarbeitern und Opfern des polnischen [[Ministerium für Staatssicherheit|Stasi]]-Gegenstücks ''[[Służba Bezpieczeństwa]]'' (SB, „Sicherheitsdienst“) aus dem [[Institut für Nationales Gedenken]] in Umlauf brachte.


Wildstein studierte von 1971 bis 1980 polnische [[Philologie]] an der [[Jagiellonen-Universität]] in [[Krakau]]. In den 1970er Jahren war er Mitglied des oppositionellen [[Komitee zur Verteidigung der Arbeiter|Komitees zur Verteidigung der Arbeiter]] (KOR) und 1977 Mitbegründer des Krakauer Studentischen Solidaritätskomitees (''Studencki Komitet Solidarności''). Seit 1980 lebte er in [[Frankreich]], wo er unter anderem als Redakteur der polnischen Monatszeitschrift ''Kontakt'' und Korrespondent von [[Radio Free Europe]] arbeitete.
Wildstein studierte von 1971 bis 1980 polnische [[Philologie]] an der [[Jagiellonen-Universität]] in [[Krakau]]. In den 1970er Jahren war er Mitglied des oppositionellen [[Komitee zur Verteidigung der Arbeiter|Komitees zur Verteidigung der Arbeiter]] (KOR) und 1977 Mitbegründer des Krakauer Studentischen Solidaritätskomitees (''Studencki Komitet Solidarności''). Seit 1980 lebte er in [[Frankreich]], wo er unter anderem als Redakteur der polnischen Monatszeitschrift ''Kontakt'' und Korrespondent von [[Radio Free Europe]] arbeitete.
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* Der linksliberale, intellektuelle Flügel, insbesondere vertreten durch [[Adam Michnik]] und dessen [[Gazeta Wyborcza]], der größten polnischen Tageszeitung, befürworten eine gesellschaftliche Aussöhnung zwischen ehemaligen Funktionären und Gegnern der [[Volksrepublik Polen|Volksrepublik]], die auf einem Verzicht auf eine umfassende „Durchleuchtung“ und auf politische Rache beruhen soll. Diese Haltung wird auch mit dem Schlagwort vom „dicken Schlussstrich“ (''gruba kreska'') unter die Vergangenheit bezeichnet, das seinerzeit der erste nichtkommunistische Ministerpräsident [[Tadeusz Mazowiecki]] geprägt hatte.
* Der linksliberale, intellektuelle Flügel, insbesondere vertreten durch [[Adam Michnik]] und dessen [[Gazeta Wyborcza]], der größten polnischen Tageszeitung, befürworten eine gesellschaftliche Aussöhnung zwischen ehemaligen Funktionären und Gegnern der [[Volksrepublik Polen|Volksrepublik]], die auf einem Verzicht auf eine umfassende „Durchleuchtung“ und auf politische Rache beruhen soll. Diese Haltung wird auch mit dem Schlagwort vom „dicken Schlussstrich“ (''gruba kreska'') unter die Vergangenheit bezeichnet, das seinerzeit der erste nichtkommunistische Ministerpräsident [[Tadeusz Mazowiecki]] geprägt hatte.


* Der rechtskonservative Flügel kritisiert diese Position als versöhnlerisch, vertritt demgegenüber einen moralischen Rigorismus und fordert eine konsequente Durchleuchtung aller vor 1972 geborenen Personen, die Führungspositionen in Politik, Wirtschaft oder Medien innehaben oder anstreben.
* Der rechtskonservative Flügel kritisiert diese Position als versöhnlerisch und fordert eine konsequente Durchleuchtung aller vor 1972 geborenen Personen, die Führungspositionen in Politik, Wirtschaft oder Medien innehaben oder anstreben.


In der Auseinandersetzung um die „Durchleuchtung“ war Wildstein einer der prominentesten Gegner des „Schlussstriches“ und Verfechter einer Abrechnung, auch wenn diese auf Kosten des gesellschaftlichen Friedens gehe.
In der Auseinandersetzung um die „Durchleuchtung“ war Wildstein einer der prominentesten Gegner des „Schlussstriches“ und Verfechter einer Abrechnung, auch wenn diese auf Kosten des gesellschaftlichen Friedens gehe.
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Wildstein brachte die Daten auf CD-ROM in die Redaktion seines Arbeitgebers [[Rzeczpospolita (Zeitung)|Rzeczpospolita]] und verteilte sie anschließend an befreundete Journalisten, woraufhin sie wenig später über Privatpersonen auch im Internet veröffentlicht wurden und dort abrufbar sind.<ref>[http://www.listawildsteina.host.sk/ Ausgangsfassung] (polnisch); [http://lista.atspace.org/ Ausgangs- und erweiterte Fassung] (polnisch/englisch)</ref>
Wildstein brachte die Daten auf CD-ROM in die Redaktion seines Arbeitgebers [[Rzeczpospolita (Zeitung)|Rzeczpospolita]] und verteilte sie anschließend an befreundete Journalisten, woraufhin sie wenig später über Privatpersonen auch im Internet veröffentlicht wurden und dort abrufbar sind.<ref>[http://www.listawildsteina.host.sk/ Ausgangsfassung] (polnisch); [http://lista.atspace.org/ Ausgangs- und erweiterte Fassung] (polnisch/englisch)</ref>


Die öffentliche Debatte begann, als die [[Gazeta Wyborcza]] am 29. Januar 2005 die Entwendung und Verbreitung der als „Wildsteins Liste“ bezeichneten Daten öffentlich machte und kritisierte. Für Irritationen sorgte insbesondere die Tatsache, dass die (unvollständige) Liste ausschließlich Namen von Personen enthält, über die eine Akte vorhanden ist, jedoch keinerlei Angaben darüber, ob es sich um ständige oder gelegentliche Mitarbeiter oder um Opfer handelt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Praxis totalitärer Apparate eine faktisch und ethisch einwandfreie nachträgliche Unterscheidung von Tätern und Opfern in vielen Fällen erschwert oder unmöglich macht. Weiterhin erschweren häufige Namensgleichheiten den Umgang mit der Liste.
Die öffentliche Debatte begann, als die [[Gazeta Wyborcza]] am 29. Januar 2005 die Entwendung und Verbreitung der als „Wildsteins Liste“ bezeichneten Daten öffentlich machte und kritisierte. Für Irritationen sorgte, dass die (unvollständige) Liste ausschließlich Namen von Personen enthält, über die eine Akte vorhanden ist, jedoch keinerlei Angaben darüber, ob es sich um ständige oder gelegentliche Mitarbeiter oder um Opfer handelt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Praxis totalitärer Apparate eine faktisch und ethisch einwandfreie nachträgliche Unterscheidung von Tätern und Opfern in vielen Fällen erschwert oder unmöglich macht. Weiterhin erschweren häufige Namensgleichheiten den Umgang mit der Liste.
Wildstein selbst erklärte, er habe die Liste lediglich als Arbeitsinstrument für [[Investigativer Journalismus|investigativen Journalismus]] an sich gebracht und weitergegeben. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass er mit stillschweigendem Einverständnis oder aktiver Mithilfe von einem oder mehreren Mitarbeitern des IPN gehandelt hat.
Wildstein selbst erklärte, er habe die Liste lediglich als Arbeitsinstrument für [[Investigativer Journalismus|investigativen Journalismus]] an sich gebracht und weitergegeben. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass er mit stillschweigendem Einverständnis oder aktiver Mithilfe von einem oder mehreren Mitarbeitern des IPN gehandelt hat.


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== Weblinks ==
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* [[Die tageszeitung|taz]]-Artikel vom 7. Februar 2005 [http://www.taz.de/pt/2005/02/07/a0221.nf/text.ges,1]
* [http://www.taz.de/pt/2005/02/07/a0221.nf/text.ges,1 Agenten-Angst], [[Die tageszeitung|taz]], 7. Februar 2005
* [http://www.welt.de/print-welt/article423086/Ein_Datendiebstahl_entzweit_die_Buerger_Polens.html Ein Datendiebstahl entzweit die Bürger Polens], [[Die Welt]], 7. Februar 2005
* [http://www.welt.de/print-welt/article423086/Ein_Datendiebstahl_entzweit_die_Buerger_Polens.html Ein Datendiebstahl entzweit die Bürger Polens], [[Die Welt]], 7. Februar 2005
* [http://www.dradio.de/dlr/sendungen/fazit/347810/ Wildsteins Liste], [[Deutschlandradio]], 14. Februar 2005
* [http://www.dradio.de/dlr/sendungen/fazit/347810/ Wildsteins Liste], [[Deutschlandradio]], 14. Februar 2005
* Chronologie von Meldungen und Kommentaren zur Affäre im Nachrichtenmagazin [[Wprost]] (polnisch) [http://www.wprost.pl/ar/?O=73098]


=== Fußnoten ===
=== Fußnoten ===

Version vom 25. März 2012, 22:17 Uhr

Bronisław Wildstein

Bronisław Wildstein (* 11. Juni 1952 in Olsztyn, Polen) ist ein ehemaliger polnischer Oppositioneller, Journalist und Schriftsteller. Vom 11. Mai 2006 bis zum 27. Februar 2007 war er Geschäftsführer des öffentlich-rechtlichen Fernsehen (Telewizja Polska) in Polen.

Landesweit bekannt wurde er Ende Januar 2005, als er eine Liste mit den Namen von ehemaligen Mitarbeitern und Opfern des polnischen Stasi-Gegenstücks Służba Bezpieczeństwa (SB, „Sicherheitsdienst“) aus dem Institut für Nationales Gedenken in Umlauf brachte.

Wildstein studierte von 1971 bis 1980 polnische Philologie an der Jagiellonen-Universität in Krakau. In den 1970er Jahren war er Mitglied des oppositionellen Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und 1977 Mitbegründer des Krakauer Studentischen Solidaritätskomitees (Studencki Komitet Solidarności). Seit 1980 lebte er in Frankreich, wo er unter anderem als Redakteur der polnischen Monatszeitschrift Kontakt und Korrespondent von Radio Free Europe arbeitete.

Nach der Wende kehrte er nach Polen zurück und war von 1994 bis 1996 Mitarbeiter der traditionsreichen Warschauer Tageszeitung Życie Warszawy. Anschließend folgte er zunächst Tomasz Wołek als stellvertretender Chefredakteur (bis 1997) zur Tageszeitung Życie und war fester Mitarbeiter der Tageszeitung Rzeczpospolita.

Wildstein und der Streit um die Lustration

Hintergrund

In seinen Beiträgen und Büchern tritt Wildstein vehement für eine in Polen nach der Wende bisher nicht erfolgte, Abrechnung mit der kommunistischen Vergangenheit ein, insbesondere für eine Offenlegung aller Personen mit Kontakten zum damaligen Sicherheitsdienst SB.

Die so genannte Lustracja – d.h. eine Durchleuchtung von Personen des öffentlichen Lebens auf Kontakte zum kommunistischen Sicherheitsapparat – hatte bis dahin nur punktuell und wenig konsequent stattgefunden. Die Lustracja ist seit Ende des Kommunismus ein zentrales Thema der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen zwei Lagern, die aus der ehemaligen demokratischen Opposition im KOR und der Solidarność hervorgegangen sind:

  • Der linksliberale, intellektuelle Flügel, insbesondere vertreten durch Adam Michnik und dessen Gazeta Wyborcza, der größten polnischen Tageszeitung, befürworten eine gesellschaftliche Aussöhnung zwischen ehemaligen Funktionären und Gegnern der Volksrepublik, die auf einem Verzicht auf eine umfassende „Durchleuchtung“ und auf politische Rache beruhen soll. Diese Haltung wird auch mit dem Schlagwort vom „dicken Schlussstrich“ (gruba kreska) unter die Vergangenheit bezeichnet, das seinerzeit der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki geprägt hatte.
  • Der rechtskonservative Flügel kritisiert diese Position als versöhnlerisch und fordert eine konsequente Durchleuchtung aller vor 1972 geborenen Personen, die Führungspositionen in Politik, Wirtschaft oder Medien innehaben oder anstreben.

In der Auseinandersetzung um die „Durchleuchtung“ war Wildstein einer der prominentesten Gegner des „Schlussstriches“ und Verfechter einer Abrechnung, auch wenn diese auf Kosten des gesellschaftlichen Friedens gehe.

So trug er 2001 zur Enttarnung eines prominenten ehemaligen Informanten des polnischen Sicherheitsdiensts SB bei: Lesław Maleszka, früher ein enger Studienfreund Wildsteins, heute Mitarbeiter der linksliberalen Gazeta Wyborcza, hatte als IM „Ketman“ das Krakauer Studentische Solidaritätskomitee (Studencki Komitet Solidarności) observiert, das er selbst zusammen mit Wildstein und anderen 1977 gegründet hatte.

Wildsteins Liste

Durch aktive Beteiligung Wildsteins erreichte der Streit um die Durchleuchtung schließlich Anfang 2005 einen Höhepunkt: Unter bisher nicht genau geklärten Umständen erhielt Wildstein aus dem Institut für Nationales Gedenken (IPN), das – analog der deutschen Gauck-Behörde – auch die Aktenbestände des kommunistischen Sicherheitsdienstes verwaltet, eine Inventarliste mit den Namen von 162.617 Personen, über die im IPN eine Akte (polnisch teczka) aus den Beständen des kommunistischen Apparates vorhanden ist.

Wildstein brachte die Daten auf CD-ROM in die Redaktion seines Arbeitgebers Rzeczpospolita und verteilte sie anschließend an befreundete Journalisten, woraufhin sie wenig später über Privatpersonen auch im Internet veröffentlicht wurden und dort abrufbar sind.[1]

Die öffentliche Debatte begann, als die Gazeta Wyborcza am 29. Januar 2005 die Entwendung und Verbreitung der als „Wildsteins Liste“ bezeichneten Daten öffentlich machte und kritisierte. Für Irritationen sorgte, dass die (unvollständige) Liste ausschließlich Namen von Personen enthält, über die eine Akte vorhanden ist, jedoch keinerlei Angaben darüber, ob es sich um ständige oder gelegentliche Mitarbeiter oder um Opfer handelt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Praxis totalitärer Apparate eine faktisch und ethisch einwandfreie nachträgliche Unterscheidung von Tätern und Opfern in vielen Fällen erschwert oder unmöglich macht. Weiterhin erschweren häufige Namensgleichheiten den Umgang mit der Liste. Wildstein selbst erklärte, er habe die Liste lediglich als Arbeitsinstrument für investigativen Journalismus an sich gebracht und weitergegeben. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass er mit stillschweigendem Einverständnis oder aktiver Mithilfe von einem oder mehreren Mitarbeitern des IPN gehandelt hat.

Während einige im Vorgehen Wildsteins eine Ursache für ein Klima gegenseitiger Verdächtigung und eine Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens sehen, betrachten es andere als einen mutigen Akt, der eine überfällige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erzwinge, die von kommunistischen Seilschaften in Politik und Wirtschaft sowie wertrelativistischen liberalen Meinungsführern in den Medien bisher verschleppt worden sei.

Am 31. Januar 2005 – zwei Tage, nachdem die Gazeta Wyborcza sein Vorgehen publik gemacht hatte – wurde Wildstein vom Chefredakteur der Rzeczpospolita entlassen; er sollte jedoch weiterhin als freier Mitarbeiter Beiträge verfassen dürfen. Mit diesem Schritt versuchte das Blatt, das zur damaligen Zeit einen eher trockenen Stil pflegte, sich von den Befürwortern der Durchleuchtung zu distanzieren und sich selbst aus der Debatte herauszuhalten. Am folgenden Tag (1. Februar) bot das polnische Nachrichtenmagazin Wprost Wildstein einen Arbeitsplatz an und erklärte, es würde die Liste auch selbst veröffentlichen, wenn dies „technisch möglich“ sei[2]. Für Wildstein sprachen sich auch zahlreiche andere Journalisten sowie Personen des öffentlichen Lebens aus (unter anderem Józef Glemp).

Verweise

Literatur

  • FAZ-Artikel vom 7. Februar 2005
Commons: Bronisław Wildstein – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Fußnoten

  1. Ausgangsfassung (polnisch); Ausgangs- und erweiterte Fassung (polnisch/englisch)
  2. "Wprost" za Wildsteinem. wprost.pl, 1. Februar 2005