Werk (Literatur)

Ein Werk im Bereich der Literatur besteht aus Text und wird durch seine Veröffentlichung ein literarhistorisches Faktum.[1] Im Allgemeinen wird der Begriff ›Werk‹ für eine bestimmte Anzahl an varianten oder invarianten Textstücken verwendet, „die trotz ihrer Varianz gegeneinander so weitgehend übereinstimmen, daß sie unter ein gemeinsames Dach gehören“, so Rüdiger Nutt-Kofoth.[2] In editionsphilologischer Hinsicht ist der Erstdruck eines Werkes diejenige Fassung, durch den der Text seinen Werkcharakter erhält und der als Grundlage für eine Edition angesehen wird.[3] Manchmal gibt es allerdings keinen nicht-fragmentarischen Text, aber es soll dennoch eine Werkausgabe erstellt werden. In einem solchen Fall, meinen Herbert Kraft, Diana Schilling und Gert Vonhoff in Anlehnung an Walter Benjamin, wird als Werk auch dasjenige begriffen, was als ein erzwungenes Ergebnis des Entstehungsprozesses eines Werks angesehen werden kann.[4]

Die traditionelle Auffassung sah ein Werk als das Ergebnis eines Schaffensaktes an, den man sich als originalästhetisch vorstellte, und demzufolge sich ein Werk durch Originalität und Identität auszeichnete. Die Hamburger Goethe-Ausgabe beispielsweise, die seit den späten 1940er Jahren herauskam und zum Muster für andere historisch-kritische Ausgaben wurde, ist nach Ansicht von Kraft, Schilling und Vonhoff „weitgehend in diesem Paradigma idealistischer Ästhetik“ verblieben. Sie zeichnet sich von ihrem Werkbegriff her dadurch aus, dass Fragen des Ursprungs und des Einflusses denen nach Originalität und Identität zumeist untergeordnet wurden.[5]

Demgegenüber steht eine Auffassung von Werk, die sich in den ideologiekritischen Debatten Ende der sechziger Jahre herauszubilden begann. Auf Julia Kristevas Bachtin-Rezeption, vor allem ihre Arbeit mit seinem Konzept der Dialogizität, geht die Einführung des Begriffs der Intertextualität zurück, der vielfältige Ausformungen erfuhr.[5] Im Anschluss an diese begrifflichen Erweiterungen versuchen Kraft, Schilling und Vonhoff mit dem Begriff funktionale Verweisungen zu verdeutlichen, dass es einen Werkbegriff jenseits der „Grenzen der bürgerlich-genialischen Entitätskonzepte“ geben kann, insofern ein Werk „mehr ist als eine in sich abgeschlossene, monadenartig zu denkende Größe.“[5] Funktionale Verweisungen bestimmen ein Werk durch „dessen stets besondere Formung kontextueller Bezüge.“[5]

Weitere Auffassungen und Definitionen von Werk finden sich bei Siegfried Scheibe (1991)[6], bei Klaus Kanzog (1991)[7] und bei Heinrich Schepers (1991).[8] Diese lauten nach Einschätzung von Herbert Kraft anders als die seine.[9]

Durch den Leseprozess werden Werke in ihrer Bedeutung konstituiert.[10]

Werkbegriff und Textbegriff seit den 1970er Jahren

Die Bezeichnung „Werk“ ist in der Literaturwissenschaft seit den 1970er Jahren umstritten und ersatzweise kommt in weiten Bereichen des Fachgebiets der Textbegriff zum Einsatz. Die Gründe dafür sind unter anderem, dass genieästhetische Autorkonzepte abgelehnt werden, ebenso wie traditionelle Auffassungen von einer Geschlossenheit und Ganzheitlichkeit eines Werkes. Stattdessen wird die Ansicht vertreten, dass Literatur prozesshaft ist und die performative Offenheit durch die Verwendung des Begriffs „Text“ besser zur Geltung kommt. Der Werkbegriff ist unter Umständen dennoch besser geeignet, nicht-manifeste Eigenschaften in den Blick zu bringen, die sich nicht allein aufgrund der Textgestaltigkeit ausmachen lassen. Ein Werk ist in dieser Perspektive nicht mit dem Text identisch, auf dem es basiert. Zu den hier ausschlaggebenden relationalen Eigenschaften eines Werkes gehört etwa die Tatsache, dass eine wortgetreue Kopie des Textes dieselbe textuelle Grundlage zweier verschiedener Werke sein kann.[11]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Herbert Kraft: Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition, Rotsch, Bebenhausen 1973, S. 37 und 41f.
  2. Rüdiger Nutt-Kofoth: „Varianten der Selbstdarstellung und der Torso des Gesamtprojekts Aus meinem Leben: Goethes autobiografische Publikationen“, in: Varianten – Variants – Variantes, herausgegeben von Christa Jansohn und Bodo Plachta. Niemeyer, Tübingen 2005, ISBN 3-484-29522-8, S. 137–156, S. 137.
  3. Herbert Kraft; Diana Schilling; Gert Vonhoff: Editionsphilologie. Lang, Frankfurt/ New York 2001, ISBN 3-631-35676-5, S. 35
  4. Herbert Kraft; Diana Schilling; Gert Vonhoff: Editionsphilologie. Lang, Frankfurt/ New York 2001, ISBN 3-631-35676-5, S. 146
  5. a b c d Herbert Kraft; Diana Schilling; Gert Vonhoff: Editionsphilologie. Lang, Frankfurt/ New York 2001, ISBN 3-631-35676-5, S. 164f.
  6. Siegfried Scheibe: „Editorische Grundmodelle“, in: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie, herausgegeben von Siegfried Scheibe und Christel Laufer, Berlin, Akademie-Verlag 1991, ISBN 3-05-001104-1, S. 23–48, darin S. 25
  7. Klaus Kanzog: „Strukturierung und Umstrukturierung in der Textgenese. Versuche, Regeln für die Konstituierung eines Werkes zu finden“, in: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie, herausgegeben von Siegfried Scheibe und Christel Laufer, Berlin, Akademie-Verlag 1991, ISBN 3-05-001104-1, S. 87–97
  8. Heinrich Schepers, „Zur Problematik des Werkes in statu crescendi. Ein Nachtrag zur Diskussion“, in: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie, herausgegeben von Siegfried Scheibe und Christel Laufer, Berlin, Akademie-Verlag 1991, ISBN 3-05-001104-1, S. 99–103
  9. Herbert Kraft; Diana Schilling; Gert Vonhoff: Editionsphilologie. Lang, Frankfurt/ New York 2001, ISBN 3-631-35676-5, S. 223, Fußnote 4
  10. Herbert Kraft; Diana Schilling; Gert Vonhoff: Editionsphilologie. Lang, Frankfurt/ New York 2001, ISBN 3-631-35676-5, S. 9
  11. Tilmann Köppe und Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar 2013. Inhaltsverzeichnis ISBN 978-3-476-02475-6, S. 135–136.