Anna Vetter

Anna Vetter (geboren im Januar 1630 in Kattenhochstatt, Fürstentum Ansbach; gestorben im Mai 1703) trat in Nürnberg als Predigerin und mystische Visionärin auf und verfasste eine autobiographische Schrift, die später von Gottfried Arnold in seiner Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie redigiert veröffentlicht wurde.

Leben

Anna Hitsch wurde 1630 als dritte Tochter und viertes Kind des Schmieds Adam Hitsch und dessen Frau Margarete in Kattenhochstatt, einem heutigen Ortsteil von Weißenburg in Bayern im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen, geboren. Im folgenden Jahr marschierte Tilly im Fürstentum Ansbach ein. In den Kriegswirren des Dreißigjährigen Kriegs kam ihr Vater ums Leben; die Mutter hielt die Familie nur notdürftig über Wasser. So schilderte Vetter, dass sie die entsorgten Sterbebetten von Pesttoten in andere Städte transportiert und dort verkauft habe. Anna selbst verbrühte sich als Kind und trug Brandmale und einen verkürzten linken Arm davon.[1]

Um 1651 heiratete die Näherin Anna den Ansbacher Maurer und späteren Schlosswächter Johann Michael Vetter (1616–1698). Zwischen 1652 und 1663 gebar sie ihm sieben Kinder, darunter die Töchter Anna Maria 1661 und Anna Barbara 1663. Vier Kinder überlebten die Jugendzeit. Ihre Eheerfahrungen schilderte Vetter drastisch: Ihr Mann sei ein gottesferner Trinker gewesen, der sie schlug und vergewaltigte; in ihrer letzten Schwangerschaft sei sie schwerkrank gewesen.[1]

Während einer der letzten Schwangerschaften, vermutlich 1660/1661 hatte sie ihre erste göttliche Vision (in der Sprache ihrer Zeit, ein Gesicht). Nach der Geburt empfing sie den göttlichen Befehl, auf ihrer Kirchenkanzel zu predigen. Daran wurde sie durch die Obrigkeit gehindert, zu ihrer Vision befragt und im Nachgang behördlich in ihrem Haus angekettet, dies soll um 1662 geschehen sein. Von der Kette will sie sich selbst nach einem halben Jahr befreit haben und in der Folgezeit um 1663 außerhalb Ansbachs umhergezogen sein, um in Eichstätt, Ellingen und Dinkelsbühl gegen den „schwartze[n] drach des Pabstthums“ zu predigen. Nach eigener Aussage sollen ihre Visionen 1663 aufgehört haben.

Hernach fühlte sie sich weiterhin zur Verbreitung ihrer Lehren berufen. Trotz ihres Bekenntnisses, seither ein ruhiges Leben zu führen, ging sie weiterhin gegen Autoritäten an und verlangte unter anderem ihr Recht auf öffentliche Predigt. Ihre Schriften, die um 1690 entstanden sein müssten (ein Enkelkind wird erwähnt)[2] übergab sie unter anderem dem Ansbacher Pfarrer Heuber (amtierend 1683–1695).[1]

Werk

Gegliedert ist die erkennbar zur Veröffentlichung bestimmte Schrift Vetters zunächst in eine Verteidigung der religiösen Rechte der Frau (wesentliche Punkte sind, dass Frauen in der Gemeinde reden und auch Lehrer und Prophetinnen sein dürften), gefolgt von Apostelbriefen an die Städte Ansbach und Nürnberg und schließend mit ihrem eigenen, selbstbewusst formuliertem lebenslauff, den sie auf begehren eigenhändig aufgeschrieben und sonst mündlich zum öfftern erzehlet. Der Lebenslauf schließt mit einer apokalyptischen Vision. Inhaltlich ist eine wiederkehrende Vision die der Geburtswehen der ganzen Stadt Nürnberg, welcher sie selbst als Hebamme beisteht und dabei Mutter und Kind vor dem Verderben rettet. Die Stadt wird sozialkritisch als Sünderin geschildert: Ammen und selbst Kinder bedienten sich ungestraft der Hexerei, Juden trieben ihr Unwesen und Adel wie Bürokratie sorgten für Schrecken und Elend. Weitere Visionen lassen sie zur Zeugin von Bibelereignissen werden, sie schaut den Teufel in verschiedenen Formen und sieht sich als Eva, Lamm Gottes und Stammmutter ihres Volkes.[3]

Vetter schrieb – sie will das Schreiben in einer Vision erlernt haben – derb und in der Volkssprache, übernahm aber gängige Begriffe sowohl aus Bibel und Katechismus sowie aus dem Wortschatz der Mystik und des aufkeimenden Pietismus ihrer Zeit, etwa die Verzückung, die Braut Gottes oder neuer Mensch. Andere Begriffe definierte sie auf ihr Weltbild um: Während die „Gluckhenne“ und die „Brüste“ im Pietismus meist als Metapher für Gott oder die Gottesmutter Maria stehen, sah sie sich selbst in der Rolle der Seligkeitsspenderin für ihre Gemeinde. Weitere Visionsbilder und Gleichnisse übernahm sie, ebenfalls mit eigenen Interpretationen, aus der Offenbarung des Johannes und schließlich aus ihrem Alltag: Die Ansbacher fürstliche Familie steht für die Aspekte Gottes, die verdorbenen Gäste eines „Wirtshauses“ stehen für die von Gott abgefallene Christenheit.[1]

Quellenkritik und Deutungen

Gottfried Arnold gab vermutlich wahrheitsgemäß an, das heute nicht mehr im Original erhaltene Manuskript der Anna Vetter von einem „gewissenhaften Prediger“ erhalten zu haben, der es von Vetter selbst erhalten habe. Arnold ordnete, kommentierte und redigierte das Manuskript; auch in den ersten vier Ausgaben der Unparteyischen Historie zwischen 1700 und 1742 wurde der Text orthographisch weiter nachbearbeitet. Das zentrale Dokument über das Leben Vetters ist damit durch Arnolds redaktionelle Nachbearbeitung verfremdet worden.[1] Übertragen in heutiges Deutsch steht der autobiografische Text in einem Sammelband zur Verfügung.[4]

Friedrich Wilhelm Kantzenbach verifizierte 1976 mithilfe von Kirchenbucheintragungen, dass Anna Vetter tatsächlich lebte; verschiedene Angaben ihrer Autobiographie zu Geburt, Heirat und Kindern stimmen demnach mit den recherchierten Eintragungen im Wesentlichen überein.[1]

Die Visionen und Aktionen der Anna Vetter wurden im Lauf der Zeit unterschiedlich interpretiert. Arnold selbst stellte sich in seinem Kommentar als neutraler Vermittler dar; der lutherische Johann Heinrich Feustking benannte sie als unchristliche Wahnsinnige mit abgeschmackten Offenbarungen. Jeannine Blackwell diagnostizierte bei ihr unter anderem eine abgerundete psychologische Krankengeschichte, erkannte Parallelen zu literarisch ähnlich aufgebauten Hexengeständnissen und -prozessen des 17. Jahrhunderts, und vermutete wie auch Gerda Lerner[5] frühfeministische Befreiungsversuche weiblicher Subjektivität. Letzterer Deutung widersprach entschieden Eva Kormann, die Vetter als eine auf ihre persönlichen Verhältnisse zentrierte Autorin sah, die ihre Religion zum eigenen Ausdruck nutzte.[1] Um ihrer Forderung nach einem reinen Leben Glaubhaftigkeit zu verleihen, habe Vetter für ihre Schwangerschaften sowohl die Vergewaltigung durch den Mann bemüht, als auch von einer unbefleckten Empfängnis geschrieben. Auch ihre Bezichtigungen zahlreicher anderer Frauen als Hexen und ihr ungezügelter Judenhass ließen in ihr keine gerechte Vorkämpferin für Minderheiten erkennen.[2]

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g Eva Kormann: Anna Vetter oder Religion als Argumentations- und Legitimationsmuster. In: Magdalene Heuser: Autobiographien von Frauen: Beiträge zu ihrer Geschichte. Tübingen 1996 Digitalisat ISBN 3484320850. Seiten 71–92
  2. a b Eva Kormann: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2004. ISBN 341216903X. Digitalisat Seite 158–173
  3. Jeannine Blackwell: Herzensgespräche mit Gott. Bekenntnisse deutscher Pietistinnen im 17. und 18. Jahrhundert. In: Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.): Deutsche Literatur von Frauen. Band 1, Darmstadt/München 1988. ISBN 3406331181, S. 276–279
  4. Autobiographien frommer Frauen aus Pietismus und Erweckungsbewegung. Shaker, Aachen 1999, S. 1–42.
  5. Gerda Lerner: The Creation of Feminist Consciousness. From the Middle Ages to Eighteen-seventy. New York, Oxford 1993. ISBN 0195066049. Digitalisat Seiten 94–97.