Loi de Beaumont

Die Loi de Beaumont (auch Lex Bellimontis, Bömer Recht, später Charte de Beaumont) war ein Privileg von 1182, mit dem Wilhelm von Blois, Erzbischof von Reims, die unweit der Maas gelegene Ortschaft Beaumont-en-Argonne zur Stadt erhob. Es gewährte der Gemeinde ungewöhnlich weitgehende Freiheiten, sowohl in Bezug auf die Abgaben als auch auf die alljährlich auf den Pfingsttag angesetzte Wahl der kommunalen Amtsträger.

In der Folgezeit wurde es von unterschiedlichen Herren jeweils mit einer Einsetzungsurkunde für andere Orte eingeführt. Die Charta von Beaumont enthielt 57 Artikel, die neben den Abgaben an den Herren und der gemeindlichen Selbstverwaltung auch die Nutzung von Wald und Gewässern, Gerichtsverfahren sowie Geldbußen und deren Verteilung regelten. Eine aus dem 16. Jahrhundert überlieferte spätere Fassung (auch „Arche“ genannt)[1] enthielt 150 Artikel und ist wahrscheinlich aus der Rechtsprechung zum Loi de Beaumont entstanden.

Das Loi de Beaumont galt zum Teil bis zur Französischen Revolution in bis zu 700 Orten in damals französischsprachigen und deutschsprachigen Gebieten, die heute zu Frankreich, Belgien (meist in der Provinz Luxemburg) und Luxemburg gehören.

Geschichtlicher Hintergrund

Beginnend um die Mitte des 12. Jahrhunderts wurden in einer Reihe von Herrschaften im nördlichen Frankreich und in Lothringen vergleichbare Privilegien eingeführt. Darunter war 1158 die des Herrn von Avesnes für den Ort Prisches im Hennegau, die für weitere 40 Dörfer übernommen wurde.[2] Die Charta für Beaumont wurde 1182 von Erzbischof Wilhelm von Blois (1135–1202) erlassen. Beaumont lag damals außerhalb des Kerngebiets des Erzbistums Reims und außerhalb des Königreichs Frankreich im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches.[3] Es wird angenommen, dass der Erzbischof aus militärischen Gründen an der am Rand seiner Herrschaft gelegenen Ansiedlung und an ihrer Befestigung interessiert war.[4] Für den Ort wird schon 1147 eine Festung erwähnt, aber mit der Loi de Beaumont sollte das Dorf konsolidiert und erweitert werden. Deswegen begünstigen einzelne Bestimmungen der Charta die Rodung von landwirtschaftlichen Flächen.[5]

Sprache der Charta und Bezeichnungen

Die Charta von 1182 ist in lateinischer Sprache verfasst.[6] Es gab vermutlich bald eine Fassung in altfranzösischer Sprache, die aber nur ohne Datierung überliefert ist.[7] Da die Loi de Beaumont auch im deutschen Sprachgebiet eingeführt wurde, dürfte es auch eine mittelhochdeutsche Fassung gegeben haben.

Derartige Urkunden werden in der Forschung als Charta, Privileg oder Freiheitsbrief (französisch charte d'afranchissement) bezeichnet. Orte, die solchen Privilegien unterliegen, werden Markt, Flecken, Freiheit, gefreites Dorf oder Weichbild genannt, lateinisch villa nova, französisch ville neuve oder village affranchi. Dabei bezieht sich "Freiheit" nicht auf den Status der Ortsbewohner, sondern auf die Rechtshandlung des Herrn, der dabei nicht durch Gewohnheitsrecht gebunden war.[8] Als villa nova oder ville neuve wurden auch Orte bezeichnet, die wie Beaumont selbst bereits vor der Verleihung des Privilegs bestanden. Obwohl villa auch eine Stadt bezeichnen kann, wird in diesem Fall meistens mit "Dorf" (französisch village) übersetzt.[9]

Die Bestimmungen der Charta

In der nachfolgenden Zusammenfassung der Charta von 1182 sind alle Geldbeträge in Denare (französisch denier, entsprechend dem Pfennig) umgerechnet. In der Charta werden sie unterschiedlich mit Denaren (lateinisch denarii), Schillingen (lateinisch solidi; je 24 Denare) und Pfund (lateinisch libri; je 20 Schillinge) angegeben.

Abgaben

Auf dem Markt durfte ohne Steuern oder Zoll frei gehandelt werden (Art. 2). Beim Verkauf von Liegenschaften waren zwei Denare zu zahlen, bei der Aufnahme als Bürger ebenfalls zwei Denare.

Die Höhe der an den Herren zu leistenden Abgaben wurde wie folgt festgelegt:

  • jährlich 12 Denare durch jeden Bürger, der ein Haus oder einen Garten besitzt (Art. 1);
  • jährlich 4 Denare für das Mähen von Wiesen (Art. 3);
  • 16,6 % von der Getreideernte (14,2 % bei gerodetem Land) (zwei von 12 bzw. von 14 Garben) (Art. 4);
  • 4,2 % für Brot, das zwingend im herrschaftlichen Backofen gebacken werden musste (eines von jeweils 24 Broten; Art. 5);
  • 5 % für Mehl, das zwingend in der herrschaftlichen Mühle gemahlen werden musste (eines von jeweils 20 "sextarii" – vergleichbar den Metzen; Art. 6).

Diese Sätze gelten für die Zeit als vergleichsweise hoch.[10] Der Vorteil für die Beteiligten dürfte in der präzisen Festsetzung und damit Vermeidung von Willkür gelegen haben.[11]

Gewässer und Wald

Bestimmte Teile des Waldes und der Gewässer durften frei benutzt werden, also vor allem für Bauholz, Brennholz und für die Eichelmast von Schweinen sowie Fischerei (Art. 8).

Gemeindliche Selbstverwaltung

Bürgermeister (lateinisch major) und Ratsmitglieder (Geschworene, lateinisch jurati) sollten nur mit Zustimmung der Bürger eingesetzt werden (Art. 9). Später wurden die Ratsmitglieder jährlich an Pfingsten in indirekter Wahl gewählt (Art. 10 der Spätfassung „Arche“).[12] Die Amtsträger erhielten einen Anteil an vielen der Geldbußen sowie Tagegelder für die dreimal im Jahr stattfindende Dorfversammlung und Abgabenbefreiung für ein Haus und einen Garten (Art. 57). Tätliche Angriffe auf die Amtsinhaber wurden mit hohen Strafen bedroht (Art. 46). Der Bürgermeister teilte den neu zuziehenden Bürgern Haus und Land zu (Art. 11). Ausgaben für die Dorfbefestigung wurden von einem Dreierausschuss aus einem Beamten des Herrn und zwei Ratsmitgliedern unter Beteiligung eines Gremiums von 40 angesehenen Männern verwaltet (Art. 55). Für Gerichtsverfahren war ausschließlich das Dorfgericht zuständig (Art. 27). Die Ratsmitglieder waren für Beurkundungen zuständig (Art. 30).

Im 14. Jahrhundert unterstellten die Herren von Cons das Dorf Villers-la-Chèvre dem Loi de Beaumont, das vielen Orten im Nordosten Frankreichs, im Süden Belgiens und in Luxemburg ermöglichte, eigene Magistrate zu wählen.

Gerichtswesen

Dem Gerichtswesen war der größte Teil der Bestimmungen (43 von 57 Artikeln) gewidmet. Es wird vermutet, dass die genaue Festlegung der Höhe von Geldbußen und deren Verteilung wesentlich zur Beliebtheit der Rechtsordnung beitrug, weil damit willkürlichen Entscheidungen entgegengewirkt wurde.[13] Regeln des Zivilrechts im heutigen Sinn mit Ausnahme einer Bestimmung zur Ersitzung sind in der Charta nicht enthalten.[14]

Die Geldbußen erhielt zu durchschnittlich 70 % der Herr, den Rest die Ortsobrigkeit (Bürgermeister und/oder Ratsmitglieder), teilweise der Verletzte.[15] Der Anteil des Herrn wurde zur Hälfte für die militärische Befestigung des Dorfs verwendet (Art. 55).

Bei ganz schweren Delikten wie Tötung oder schwerer Körperverletzung unterlag der Täter der „Verfügung des Herrn“ (dispositio domini), der Todesstrafe oder andere leibliche Bestrafung verhängen konnte. Bei vielen Delikten galten nach der Charta von 1182 archaische Beweisregeln wie Reinigungseid oder Gottesurteil. Gottesurteile wurden aber um dieselbe Zeit abgeschafft und sind in der späteren Fassung (Arche) nicht mehr erwähnt.[16]

Die Urteile des Dorfgerichts waren grundsätzlich endgültig (Art. 36). Man konnte dem Urteil widersprechen (Urteilsschelte), in welchem Fall ein anderes Dorfgericht zu entscheiden hatte, ob das Urteil richtig war. Bei einem solchen Verfahren mussten aber entweder die unterliegende Partei oder die Ratsmitglieder als Geschworene eine hohe Strafe von 2400 Denaren zahlen (Art. 35).[17]

Die Strafe für Nichtzahlung einer Geldbuße war einjährige Verbannung aus dem Dorf und Wiederaufnahme nur nach Wiedergutmachung (Art. 50).

Wenn ein Fremder sich in das Dorf flüchtete, genoss er dort Schutz vor Strafverfolgung (Asyl) außer bei Diebstahl und Mord. Auch bei letzteren konnte er sich vor dem Dorfgericht rechtfertigen (Art. 48).

Ausgewählte Geldbußen

Art.TatbestandStrafe in Denaren
12Prozessverlust36
13Beleidigung als Lügner60
14Beleidigung als Gesetzloser120
15Schlagen ohne Waffen540
16Angriff mit stumpfen Waffen ohne Verwundung720
17Angriff mit stumpfen Waffen mit Verwundung1200
21Angriff im Haus des Angegriffenen1200
27Klage gegen Mitbürger vor anderen Gerichten120
39Bruch des Marktfriedens durch einen Bürger1200
40Bruch des Marktfriedens durch einen Auswärtigen720
41Schlagen eines Auswärtigen durch einen Bürger oder umgekehrt720
42Diebstahl der Früchte vom Weinberg oder Feld60
43Beschädigung von Gärten30
44Diebstahl der Früchte vom Weinberg oder Beschädigung von Gärten durch einen Auswärtigen30
45Diebstahl von Früchten oder Beschädigung von Gärten durch Kinder12
51Großvieh in Weinbergen oder Feldern12
51Kleinvieh in Weinbergen oder Feldern12
46Gewalt gegenüber Bürgermeister oder Geschworenen ohne Waffen1200
52Pfandannahme ohne Erlaubnis120
54Holznutzung im Wald ohne Erlaubnis120

Heeresfolge

Die Bürger waren verpflichtet, sich an den militärischen Aufgaben des Herrn zu beteiligen (Heeresfolge), aber der Umfang wurde genau und sehr moderat festgelegt, nämlich auf zwei Tage im Jahr, Reisezeit eingerechnet (Art. 56).

Leibeigenschaft

Bonvalot und mit ihm ein Teil der Literatur meinte, die Loi de Beaumont habe für die Bürger in den betreffenden Orten die Leibeigenschaft abgeschafft.[18] Neuere Forschung hat jedoch dargelegt, dass davon weder in der Charta von 1182 noch in der späteren Fassung (Arche) die Rede ist. Deswegen sei anzunehmen, dass eine etwaige Leibeigenschaft und damit verbundene Verpflichtungen davon nicht berührt wurden, soweit dazu nicht im betreffenden Privileg ausdrücklich etwas geregelt wurde.[19]

Orte mit Loi de Beaumont

Eine Liste mit 508 Orten, in denen die Loi de Beaumont eingeführt wurde, geordnet nach dem jeweiligen Landesherrn und mit dem Jahr der Einführung, hat Bonvalot erstellt.[20]

Für die folgenden Orte in damals deutschsprachigen Gebieten hat Kielmeyer die Einführung der Loi de Beaumont nachgewiesen:[21]

Ortsnameabweichender heutiger Ortsnameheutiges Land
Attert Luxemburg
AutelAutelbas, AutelhautBelgien
Barnich Luxemburg
BebingenBébing)Frankreich
Belvaux Luxemburg
Bettemburg Luxemburg
Bondorf Luxemburg
DiedemburgThiaumontBelgien
Differdingen Luxemburg
Eischen Luxemburg
Esch/Eltz Luxemburg
FlörchingenFlorangeFrankreich
Fouches Belgien
FreilingenFreylangeBelgien
Grendel Belgien
Guelf(früher Juvillancourt)Belgien
GuerlingenGuerlangeBelgien
Hachy Belgien
Hallency Belgien
Hameringen Frankreich
HavingenHavangeFrankreich
HewerdingenHabergyBelgien
HobscheidHabschtLuxemburg
Holz(zu Bondorf)Luxemburg
Klein-Elserot Luxemburg
KünzigKuntzigFrankreich
Landrewingen Frankreich
LawasserLongeau (Ortsteil von Messancy)Belgien
Limpach  
Linger  
Lischer Belgien
LommeringenLommerangeFrankreich
Lotter Belgien
Messancy Belgien
Metzertbei TontelangeBelgien
Niederkerschen Luxemburg
Nothomb Belgien
Oberkerschen Luxemburg
Petingen Luxemburg
Platen Luxemburg
Rachecourt Belgien
RambruchRambrouchLuxemburg
Reimerich Luxemburg
Riesling  
RomeldingenRomeldangeBelgien
Roodt Luxemburg
Sampont Belgien
Schadeck Luxemburg
Selingen Belgien
StockheimStokkemBelgien
TintangeTintangeBelgien
TontelingenTontelangeBelgien
TurpangeTurpangeBelgien
UdingenUdangeBelgien
Windingen Belgien

Literatur

  • Édouard Bonvalot: Le tiers état d'après la charte de Beaumont et ses filiales. Paris 1884 (https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7115g/f4.item# online).
  • Albrecht Cordes: Art. Loi de Beaumont. In: Albrecht Cordes und Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG). Berlin 2009, ISBN 978-3-503-11200-5, Sp. 1035–1036.
  • Otto Adolf Kielmeyer: Die Dorfbefreiung auf deutschem Sprachgebiet. Diss. Bonn 1931.
  • Michael Prinz zu Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. Eine Rechtsordnung zwischen Stadt und Dorf. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (ZRG GA ). Bd. 141 (2024), ISSN 0323-4045, S. 47–87.
  • Walther Maas: "Loi de Beaumont" und Jus Theutonicum. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Bd. 32, Nr. 3/4 (1939), S. 209–227.
  • Marcel Walraet: Les Chartes-lois de Prisches (1158) et de Beaumont-en-Argonne (1182). Contribution à l'étude de l'affranchissement des classes rurales au XIIe siècle. In: Revue belge de philologie et d'histoire. Bd. 23 (1944), S. 127–162.

Einzelnachweise

  1. Dieser Name leitet sich aus französisch arche für ein Gewölbe ab und bezieht sich auf den Aufenthaltsort der Handschrift im Rathaus von Beaumont (Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 49).
  2. Robert Fossier: Les « communes rurales » au Moyen Age. In: Journal des savants. 1992, S. 235–276, S. 58; weitere 43 Charten aus dem Hennegau sind abgedruckt und auf Französisch übersetzt bei Jean Marie Cauchies, Françoise Thomas (Hrsg.), Chartes-Lois en Hainaut (XIIe-XIVe siècle). Édition et Traduction, Mons 2005.
  3. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 52.
  4. Kielmeyer: Die Dorfbefreiung auf deutschem Sprachgebiet. Bonn 1931, S. 40–42.
  5. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 53.
  6. Text und Übersetzung bei Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 69–82.
  7. Eine altfranzösische Fassung ist abgedruckt bei Bonvalot: Le tiers état d'après la charte de Beaumont et ses filiales. Paris 1884, S. 110–119.
  8. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 53.
  9. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 69 Fußnote 97.
  10. Kielmeyer: Die Dorfbefreiung auf deutschem Sprachgebiet. Bonn 1931, S. 15.
  11. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 59.
  12. Text und Übersetzung bei Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 61 und Fußnote 70.
  13. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 62 f., 68.
  14. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 65 f.
  15. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 63 f., Details S. 86 f.
  16. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 64.
  17. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 66.
  18. Bonvalot: Le tiers état d'après la charte de Beaumont et ses filiales. Paris 1884, S. 120; Robert Fossier: Art. Beaumont-an-Argonne, Loi de. In: Patrick Geary (Hrsg.). Lexikon des Mittelalters online., Stuttgart 1977–1999, Sp. 1758.
  19. Löwenstein: Loi de Beaumont 1182. In: ZRG GA 141 (2024), S. 54–56 mit weiteren Nachweisen in Fußnote 49
  20. Bonvalot: Le tiers état d'après la charte de Beaumont et ses filiales. Paris 1884, S. 155 – 245.
  21. Kielmeyer: Die Dorfbefreiung auf deutschem Sprachgebiet. Bonn 1931, S. 69 mit Einzelheiten S. 71–90.