Paul Lorenzen

Paul Lorenzen 1967

Paul Lorenzen[1] (* 24. März 1915 in Kiel; † 1. Oktober 1994 in Göttingen) war ein deutscher Philosoph, Wissenschaftstheoretiker, Mathematiker und Logiker. Er ist neben Wilhelm Kamlah der Begründer der Erlanger Schule des methodischen Konstruktivismus.

Leben

Lorenzen studierte Mathematik, Physik, Chemie und Philosophie in Kiel, Berlin und Göttingen. Hier promovierte er 1938 bei Helmut Hasse mit einer Arbeit zur Abstrakten Begründung der multiplikativen Idealtheorie. 1939 wurde er in Bonn Assistent von Wolfgang Krull. Er nahm am Krieg teil, während dem er seit 1942 als Lehrer an der Marineschule in Wesermünde eingesetzt war. Zurück in Bonn konnte er sich 1946 habilitieren, war 1948/49 kurz Gastdozent in Cambridge und wurde 1952 apl. Professor.

In Kiel übernahm er 1956 eine ordentliche Professur für Philosophie. 1962 nahm er die auf Initiative von Wilhelm Kamlah zustande gekommene Berufung nach Erlangen an: allein zu dem Zweck, "um mit Kamlah zusammenarbeiten zu können". Hier lehrten beide in enger Kooperation – der sich als erstes die seinerzeit weithin bekannt gewordene "Logische Propädeutik" verdankt – derart erfolgreich ein methodisches Denken, dass daraus eine "Schule" entstand, die heute unter verschiedenen Bezeichnungen (z.B. Erlanger Konstruktivismus) firmiert. 1967 - 1968 war Lorenzen John Locke Lecturer in Oxford. Seit 1967 versah er in der vorlesungsfreien Zeit Gastprofessuren in Austin (Texas) und Boston. 1980 wurde Lorenzen das Bundesverdienstkreuz verliehen. Seit seiner Emeritierung 1980 lebte er in Göttingen, wo er 1994 starb. Sein Nachlass befindet sich im Philosophischen Archiv der Universität Konstanz.

Erlanger Schule

Hauptartikel: Erlanger Konstruktivismus

Die Methodische Philosophie von Lorenzen und Kamlah hatte bis in die 1980er Jahre großen Erfolg und hohes Ansehen weit über die Grenzen Erlangens hinaus. Die Erlanger Schule suchte eine aufklärerische Neubegründung der Vernunft zwischen dem kritischen Rationalismus Karl Poppers sowie der von der Transzendentalpragmatik Karl-Otto Apels intendierten Letztbegründung und fand einen Koalitionspartner in der Frankfurter Schule ("Große Koalition") gegen den Szientismus und den Logischen Empirismus. Es gab in den späten 1960er Jahren Kongresse, auf denen Jürgen Habermas und Lorenzen als Hauptredner auftraten.

Im Anschluss an Ludwig Wittgensteins Spätphilosophie geht es um eine Fundierung der Philosophie und Wissenschaftstheorie durch das Handeln. Hauptstränge der Erlanger Philosophie sind das zirkelfreie Prinzip der Methodischen Ordnung und die dialogische und reflexive Vernunft. Als Methodische Philosophie wird pointiert - ähnlich wie bei Johann Gottlieb Fichte und Immanuel Kant - eine kulturale Wissenschaftstheorie ausgearbeitet und einer analytischen gegenüber gestellt. In der Erlanger Schule wurde das Wort "natürlich" durch das Wort "kultürlich" ersetzt und sogar von einem Kulturalismus (Lorenzen) gesprochen. In diesem Zusammenhang standen auch die Debatten über das Vorgehen in der Sprachphilosophie, der Logischen Propädeutik, der Dialogischen Logik, der operativ-konstruktiven Mathematik und der Protophysik. Später kam die normative Logik, Ethik und die Politik hinzu. Es wurde eine disziplinübergreifende Grundlegung der Wissenschaften angestrebt.

In den 1970er Jahren bereits erhielten die ersten Mitarbeiter aus dem Erlanger Umfeld Berufungen und entwickelten die Erlanger Philosophie weiter: Jürgen Mittelstraß, Friedrich Kambartel und andere gingen an die Reformuniversität in Konstanz (geschichtlich und enzyklopädisch orientierte "Konstanzer Schule"), Kuno Lorenz entwirft in Saarbrücken eine dialogische Komponente der Erlanger Philosophie, Peter Janich gestaltet in Marburg einen methodischen Kulturalismus und Christian Thiel (Experte für Gottlob Frege und mathematische Grundlagenfragen) versah die Nachfolge des Lorenzen-Lehrstuhls in Erlangen. Carl Friedrich Gethmann und Friedrich Kambartel haben sich den Diskursen um die methodische Philosophie angeschlossen, ohne schon in Erlangen die Entwicklung mitgeprägt zu haben. - Etwa 50 Hochschullehrer um Jürgen Mittelstraß, die der Erlanger Schule nahestehen[2] schreiben seit den 1970er Jahren an einer Enzyklopädie. Diese Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie [3], die inzwischen in der 2. Auflage von Mittelstraß herausgegeben wird, wurde[4] eins der größten „allgemeinen Nachschlagewerke zur Philosophie im deutschsprachigen Raum“.

Lorenzen selbst systematisierte sein Denken, das er zuletzt in seinem Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie zusammenfassend darstellte.

Logische Propädeutik

Wie oben erwähnt, erscheint als erstes Produkt der Zusammenarbeit mit Kamlah 1967 die "Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens." In ihr wird ein zirkelfreier Aufbau einer vernünftigen Sprache angestrebt. Dadurch wollten Lorenzen und Kamlah dem großen Sprachwirrwarr und den miteinander zerstrittenen philosophischen Richtungen entgegentreten, weil die Ursache für den Sprachwirrwarr in der Ungenauigkeit und der Zirkelhaftigkeit gesehen wurde.

Das Buch stellt einen handlungstheoretischen und sprachphilosophischen Neuansatz dar, in dem nicht voraussetzungslos von Gegenständen gesprochen, sondern eine Lehre des verständlichen und im Hinblick auf Geltungsansprüche kontrollierbaren Redens und Argumentierens entwickelt wird. Durch Prädikation wird nach Regeln das Sprechen über Gegenstände kontrolliert eingeführt ohne diese - wie in der analytischen Philosophie - vorsprachlich als gegeben vorzufinden.

War Lorenzen zur Zeit der Logischen Propädeutik noch Anhänger des logischen Atomismus Bertrand Russells, so entwickelte er seit Mitte der 1970er Jahre stattdessen ausgedehnte Elementarsätze mit Tatprädikatoren und Apprädikatoren (zusätzliche Eigenschaftsworte: Dies ist ein schwarzer Schuh). - Auch die durch π symbolisierte Tatkopula tut wird zugelassen. Der Satz:

  • Tilman trägt mit Eimern Wasser ins große Haus.

gilt also als Elementarsatz oder Primaussage, obwohl er Tätigkeitsverben (trägt, genauer: tut tragen) enthält.

Dialogische Logik

Hauptartikel: Dialogische Logik

Lorenzen entwickelte zusammen mit Kuno Lorenz eine Dialogische Logik, bei der die logischen Operatoren (statt mit der Wahrheitstafel) mithilfe von Dialogen von Proponent und Opponent im Dialogspiel bestimmt werden. Diese Dialogische Logik ist auch als Vorbild des Argumentierens konzipiert worden, weil es Gesprächssituationen eher entspricht als das übliche Ableiten in Logikkalkülen.

Der Subjunktor (wenn - dann: ) wird dabei auf verschiedene Arten interpretierbar, je nachdem, welche Angriffs- und Verteidigungsregeln angesetzt werden. Bei einem nicht-klassischen Regelsatz sind während des Dialogs auch nicht-wahrheitsdefinite Aussagen erlaubt, obwohl am Ende eines abgeschlossenen Dialogs der Wahrheitswert der Gesamtaussage feststeht.

(Die Subjunktionsbehauptung wird nach der Subjunktionsregel angegriffen: dafür wird die voranstehende Primaussage behauptet.)
(Als Verteidigung wird die nachstehende Primaussage genannt, dies ist gleichzeitig auch eine Übernahme des der vorigen Zeile.)

Ob man zuerst die eigene Belegpflicht erfüllen muss oder ob man vorher den Gesprächspartner verpflichten kann seine Teilaussage zu beweisen ist abhängig von den Rahmenregeln. Carl Friedrich von Weizsäcker und Peter Mittelstaedt haben diese regelabhängigen Pointen von Lorenzen und Kuno Lorenz für die Interpretation der Quantenphysik durch zeitliche Logik aufgenommen (Quantenlogik), obwohl Lorenzen diese Interpretation nicht teilte. Für ihn gibt es zeitliche Logik ausschließlich in der Modallogik und nicht in der formalen Logik. Die verschiedenen Logiksysteme lassen sich durch Zusatz oder Wegnahme von Dialogregeln ineinander überführen. Logische Wahrheiten sind in der Dialogischen Logik teilweise dadurch ausgezeichnet, dass sich im Verlaufe eines Dialoges der eine Gesprächspartner verteidigen kann, in dem er einen Beweis des anderen übernimmt, so dass dieser nichts mehr entgegnen kann.

Lorenzen führte die Quantorzeichen (Einsquantor: „für einige“) bzw. (Allquantor: „für alle“) ein, um die Verbindung zu den entsprechenden Junktoren zu erläutern und die Interpretation zu erleichtern, damit nicht immer der Fehler gemacht wird, aus der Formulierung der Quantoren auf die „Existenz“ von etwas zu schließen.

entspricht:
entspricht:

Die Regeln für die Quantoren lauten in der dialogischen Logik folgendermaßen:

QuantorenAngriffVerteidigung

Konstruktive Mathematik

Hauptartikel: Konstruktive Mathematik

Lorenzen entwickelte eine operative konstruktiv-kalkulatorische Mathematik, die statt mit Vorgefundenem mit einer Handlungsweise, nämlich dem kalkulatorisch konstruktiven Zählen beginnt.

Dazu wird ein Zähl- oder Strichkalkül der Grundzahlen (wie Lorenzen statt natürliche Zahlen sagt, um das konstruierende Handeln vom Vorgefundenen abzugrenzen) verwendet:

=> |
n => n|

Auf diese Weise werden "von uns" Zahlen hergestellt: sie sind Produkte von Zähloperationen. Logik und Mathematik werden pragmatisch als eine Lehre vom Operieren nach bestimmten Regeln verstanden. Auf dieser zunächst auch "operativ", erst in den 1960er Jahren "konstruktiv" genannten Grundlage rekonstruierte Lorenzen die gesamte Mathematik bis zur klassischen Analysis, eine Mathematik, die nur mit dem auskommt, was man nachvollziehbar konstruieren kann.

Lorenzen entwickelte das Hilbertprogramm weiter und führte 1951 einen Widerspruchsfreiheitsbeweis für die verzweigte Typentheorie durch. In seinem 1962 veröffentlichten Buch Metamathematik fasst er die Metamathematik als "Mathematik der Metatheorien" auf, wobei eine Metatheorie eine (konstruktive oder axiomatische) Theorie über axiomatische Theorien darstellt. 1972 legte Lorenzen eine Kurzfassung vom Beweis des Gentzenschen Hauptsatzes vor, der besagt, dass die Schnittregel in den Logikkalkülen gültig ist. Die Verwendung dieses Satzes ist die metalogische Haupttechnik der Widerspruchsfreiheitsbeweise für die Arithmetik und Analysis. Das Ziel der Metamathematik Lorenzens war es, durch den Beweis der Widerspruchsfreiheit der konstruktiven Mathematik auch den Beweis der Widerspruchsfreiheit der axiomatischen Mathematik zu führen, der in der axiomatischen Mathematik allein nach den Ergebnissen von Gödel nicht zu erhalten war. Widerspruchsfreiheit ist für Lorenzen dadurch gewährleistet, dass man von elementaren widerspruchsfreien Systemen stets nur zu widerspruchsfreien Systemen übergeht. Die arithmetischen und logischen Kalküle werden miteinander verbunden.

Die Rekonstruktion der klassischen Analysis[5] verfolgt das Ziel ein konstruktives Modell für die Analysis vorzulegen. Dabei werden nicht alle üblichen Beweise übernommen, aber die klassischen Beweise so umgearbeitet, dass die meisten Resultate erhalten bleiben. Aus Termen werden Folgen abstrahiert, reelle Zahlen sind als Abstraktion aus konzentrierten Cauchy-Folgen rationaler Zahlen bestimmbar, deren Differenz eine Nullfolge ist [6]. Spezielle Sätze wie etwa der Satz von Bolzano-Weierstraß werden so umformuliert, dass sie nur für konstruierbare Folgen (Zahlen, Funktionen usw.) gelten. Das Auswahlaxiom ergibt sich aus der Konstruierbarbeit von selbst und wird deshalb nicht benötigt.

Noch im Ruhestand schrieb Lorenzen eine Elementargeometrie.[7] Neben der Ausarbeitung der Protogeometrie und Geometrie entwirft er ein Fundament für die analytische Geometrie. Lorenzen lehnt Unendlichkeitsvorstellungen ab. Unendlichkeit ist für ihn nur ein Ignorieren (Abstraktion, Absehen von) der Endlichkeit. Benutzte Lorenzen in der Rekonstruktion der Analysis 1965 noch indefinite Quantoren für überabzählbare Mengen, so spricht er später[8] von jeweils einer Menge der reellen Zahlen, die gerade als Basis notwendig ist (z.B. auch algebraische Körpererweiterungen mit transzendenten Zahlen) und nicht von der Menge "aller" reellen Zahlen. Eine solche Sprechweise vermeidet die Paradoxien der Überabzählbarkeit, indem nur konstruierbare Listen von Zahlen und Funktionen verwendet werden, die man also kennt. Man erhält so jeweils eine Menge der für praktische Anwendungen nötigen reellen Zahlen. Seit Georg Cantor verwendete Diagonalverfahren werden als Konstruktionstechnik interpretiert zu erweitern.

Protophysik

Hauptartikel: Protophysik

Mit Peter Janich und Rüdiger Inhetveen entwickelte Lorenzen eine umstrittene, Protophysik genannte, Vorphysik der Messinstrumente, in der man sich (vor den Messungen) Rechenschaft über die Bestimmung von Messinstrumenten verschafft und diese Bestimmungen später nicht revidiert. Im Anschluss an Kant und Dingler wurde dies für die Geometrie, die Zeitrechnung und die Wahrscheinlichkeitstheorie von Lorenzen ausgearbeitet. Wenn Uhren als frei schubsynchrone Taktgeber definiert werden, bevor mit ihnen gemessen wird, so sind sie nicht mehr empirische Forschungsgegenstände, sondern Artefakte. Das Prinzip der methodischen (deshalb: methodischer Konstruktivismus) Ordnung schreibt folgendes über Messinstrumente vor: Die normierten Bestimmungen, die die Herstellung von Messgeräten ermöglichen, können nicht durch Messungen widerlegt werden, die erst mit Hilfe dieser Messgeräte erhalten werden.

Anfangs hatte Lorenzen die Protophysik mit so genannten Homogenitätsprinzipien begründet. Das sind Ununterscheidbarkeitsforderungen von Aussagen über ideale Formen. Später entwickelte er mit Rüdiger Inhetveen eine Protogeometrie mit Formprinzip, in der eine Ebene über frei klappsymetrisches aneinander Passen eingeführt wird. Das wechselseitige Aneinanderpassen von Werkstücken mit ihren Abdrücken und Kopien (Klappsymetrie) ist das Kriterium, ob eine Ebnung (zum Beispiel nach dem dinglerschen Dreiplatten-Schleifverfahren) erreicht wurde. Daraus folgt dann auch eine Drehsymetrie ebener Gegenstände.

Lorenzen benutzte für das Anstreben eines Ziels, was man nie vollständig erreichen kann, terminologisch das Adjektiv ideal. Eine Ebnung von Gegenständen kann sinnvoll angestrebt werden, obwohl das Ziel nie ganz erreicht wird. - Diese Terminologie wurde auch in der politischen Theorie relevant (Anstreben eines Systems verträglicher Lebensformen).

In der anschließenden Geometrie argumentiert Lorenzen für das Formprinzip beim Konstruieren. Dies bedeutet, dass es für die Form einer geometrischen Figur nur auf die Konstruktionsvorschrift (so interpretiert Lorenzen die platonischen Ideen, ohne die Ideenlehre zu übernehmen) ankommt. Die Größe der ursprünglichen Ausgangsstrecke ist egal. Konstruktionsgleiche Dreiecke können verschieden groß sein. Sie haben aber gleiche Winkel. Dieser Ansatz von formgleichen Figuren auszugehen entspricht (gemäß John Wallis) genau der Verwendung des Parallelenaxioms und dies führt also zu einer Euklidischen Geometrie.

Lorenzen bestreitet allerdings nicht die empirisch bestätigten[9] Ergebnisse der allgemeinen Relativitätstheorie, sondern vertritt nur nicht die Mehrheitsmeinung der Physiker, dass die Konsequenz der Allgemeinen Relativitätstheorie eine tatsächliche Krümmung des Raums ist. Er sieht im metrischen Tensor der einsteinschen Feldgleichungen nur eine mathematische Beschreibung für die Umrechnung der pseudoeuklidischen Maßverhältnisse in Inertialsysteme auf ungleichförmig bewegte Bezugssysteme[10]. Nicht der Raum wird als "gekrümmt" angesehen, sondern im Vergleich zur euklidischen Geometrie als Basis fließt beispielsweise das Licht in starken Gravitationsfeldern (gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie) "krumm".

Peter Janich und andere haben die Protophysik auf andere Grundlagengebiete der Physik ausgeweitet. Im Erlanger Konstruktivismus und im methodischen Kulturalismus werden disziplinübergreifend eine Reihe weiterer Prototheorien entwickelt (Protochemie, Protobiologie, Protopsychologie, Protoethik). Carl Friedrich Gethmann entwarf eine Protologik.

Modallogik

Aus der ontischen und deontisch-normativen[11] Modallogik entwickelte Lorenzen[12] die Grundlagen für die so genannte Hauptschule der Vernunft (Weiterführung der Propädeutik), die die technischen und politischen Wissenschaften begründen soll (konstruktive Wissenschaftstheorie). Dafür[13] wird eigens eine Orthosprache entworfen.

Die Modalworte "kann" und "muss" werden formal rekonstruiert. Die verschiedenen Formen der Modallogik verfügen mit solchen Begriffen über technische und politische Kurzfassungen von Verlaufshypothesen:

  • Handlungsvermögen: Das Mädchen kann vom Sprungbrett springen.
  • Ethisch-politisches Dürfen: Tilman darf ein Stück Pizza bekommen.
  • Biologisch-medizinisches Werden (potentiell): Aus einem Kirschkern kann ein Baum entstehen.[14]
  • Verlaufshypothesen (Naturgesetze): Das Haus kann zusammenfallen.
  • Technisches Können: Das Auto kann mit Katalysator gebaut werden.

Entsprechend lassen sich zu den "kann"-Modalitäten "muss"-Modalitäten bilden ( notwendig p definiert durch nicht möglich nicht p). Die Modallogik Lorenzens ist zunächst wissensbedingt, das heißt, dass die in der Modallogik gemachten Aussagen relativ zu einem vermeintlichen, auf zeitliche Veränderungen bezogenen, Wissen gelten. Für die Imperative in der deontisch-normativen Logik benutzt Lorenzen zusätzliche Ausrufezeichen.

Die verschiedenen Typen von Modalitäten spielen auch zusammen. Etwa in dem Satz: "Erreichbarkeit (menschliches Vermögen) impliziert Möglichkeit (Verlaufshypothese)".

Sind Modalaussagen logisch wahr, so kann das zugrunde liegende vermeintliche Wissen weggeschnitten werden. Auf diese Weise lassen sich also modallogische Wahrheiten unabhängig davon bilden, ob das zugrunde liegende Wissen stimmt. Dies folgt aus dem Schnittsatz. Für Lorenzen besteht darin eine Pointe die Modallogik einfach zu fundieren.

Von der Ethik zur Politik

Unter anderem für die Tätigkeit als John Locke Lecturer in Oxford entwickelte Lorenzen eine normative Logik, um in den folgenden Jahren (anfangs mit Oswald Schwemmer) eine vernünftige Begründung der Ethik anzustreben, ein Ziel, welches er später verwarf. Er hielt die Ethik für "nicht theoriefähig". Stattdessen sieht er in unserer "posttraditionalen" Kultur die Aufgabe, eine politische Theorie zu entwickeln, um Bürgerkriege zu vermeiden.

Lorenzen kritisierte die Rede vom Willen als ungenau. Zunächst wurde sogar in Erlangen das Kunstwort Wollung geprägt. Die personenbezogenen Zuschreibungen (starker Wille, böser Wille) sollten für die ethisch-politische Beurteilung einer Wollung nicht berücksichtigt werden, sondern die Zwecke sollen mit Bedürfnissen (konstruktive Soziologie) abgleichbar sein. Menschen bilden jedenfalls mittels Verlaufshypothesen aus Wünschen Zwecke ihres Handelns (und aus Vermutungen technische Behauptungen, wie diese Ziele zu erreichen sind). Gemeinsam mit anderen Philosophen wie etwa Friedrich Kambartel und Jürgen Habermas betonte Lorenzen im Gegensatz zum Wiener Kreis den Primat der ethisch-politischen (praktischen) vor der technischen (theoretischen) Vernunft.

Die gewählten Ziele können einander widersprechen. Bei einer Planung, etwa in einer Gruppe, schließen sich Vorgehensweisen gegeneinander aus. Lorenzen zitiert dazu das kantsche Beispiel, dass nicht sowohl Franz I. als auch Karl V. Mailand bekommen können. Die Zwecke sind inkompossibel (unverträglich). Aber auch wenn man sich über die Zwecke, Aufgaben und Ziele einig ist, sind die Mittel manchmal umstritten. Wenn die Vorgehensweisen verträglich gemacht werden, überwindet sich jeder der Beteiligten für das gemeinsame Ziel. Wenn es klappt, wird "Transsubjektivität" erreicht.

Lorenzen schrieb Arbeiten zum demokratischen Sozialismus und zum Republikbegriff: Friedenspolitiker erarbeiten ein System von verträglichen Lebensformen (oberste Zwecke) mit dem Ziel des Wohlstands und Friedens.

Logik und Demokratie

Carl Friedrich von Weizsäcker, der in seiner Hamburger Zeit die lorenzensche Metamathematik studierte, schreibt über Lorenzen in Abgrenzung zu Friedrich Nietzsche:

Paul Lorenzen, der bedeutende Logiker unserer Zeit, sagte mir im Gespräch über seine dialogische Begründung der Logik: Die Logik entstammt der athenischen Demokratie. Auf dem Markt in Athen stellt Einer eine Behauptung auf. Der Andere sagt: »Das glaube ich nicht.« Der Erste: »Du musst es mir aber glauben.« Der Zweite: »Du bist nicht der Perserkönig. Du darfst mir nicht befehlen, was ich glauben muss.« Der Erste: »Ich kann es dir aber beweisen.« Der Zweite: »Bitte, beweise es!« »Und dann« so fuhr Lorenzen fort »brauchen sie Logik.« Lorenzen will nicht sagen, dass sie dann die Logik erfinden, sondern dass sie dann, durch ihre Freiheit genötigt, die wahre Logik entdecken. Lorenzen ist wie die Griechen von der Mathematik fasziniert, und er befürwortet die Demokratie. Beides gilt nicht von Nietzsche.[15]

Bibliographien

  • Thiel, Chr.: Paul Lorenzen (1915-1994). — Bibliographie der Schriften von Paul Lorenzen. in: Journal for General Philosophy of Science 27 (1996), 1-13/187-202.

Werke (Auswahl)

  • 1949 Über halbgeordnete Gruppen Springer, Berlin u. a.
  • 1951 Die Widerspruchsfreiheit der klassischen Analysis. Mathematische Zeitung 54: 1-24
  • 1951 Maß und Integral in der konstruktiven Analysis. Mathematische Zeitung 54: 275
  • 1951 Algebraische und Logische Untersuchungen über freie Verbände. The Journal of Symbolic Logik 16: 81-106
  • 1955 Einführung in die operative Logik und Mathematik. Springer, Berlin u. a., ²1969, weitere Nachdrucke 1994
  • 1958 Formale Logik. de Gruyter, Berlin (Sammlung Göschen Bd. 1176/1176a); verb. Aufl. ²1962, durchgeseh. u. erweit. ³1967, verb. 4/1970; engl. Formal Logic. Reidel, Dordrecht 1965; Formal Logic. (transl. by Frederick J. Crosson) Kluwer Academic Publishers 2004
  • 1960 Die Entstehung der exakten Wissenschaften. Springer, Berlin u. a., Nachdrucke .. 1985 ..
  • 1962 Metamathematik. Bibliographisches Institut, Mannheim (BI-HTB 25) ²1980; engl. Metamathematique (transl. by J. B. Grize) Mouton de Gruyter, Berlin New York 1967; franz. 1967, span. 1971
  • 1965 Differential und Integral. Eine konstruktive Einführung in die klassische Analysis. Akademische Verlagsgesellschaft, Frankfurt; engl. Differential and Integral: A Constructive Introduction to Classical Analysis. University of Texas Press, Austin 1971
  • 1967 mit Wilhelm Kamlah: Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens. Bibliographisches Institut, Mannheim (BI-HTB 227/227a); 2., verb. u. erw. Aufl. 1973 u.d.T.: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens. ISBN 3411052279 Nachdruck 1990, 1992; seit 1996 Metzler, Stuttgart; engl.: Logical Propaedeutic. Pre-School of Reasonable Discourse. (Trans. H. Robinson) University Press of America, Lanham 1984
  • 1968 Methodisches Denken. Suhrkamp, Frankfurt 1968, ²1974 ff (stw 73)
  • 1969 Normative Logic and Ethics. Bibliographisches Institut, Mannheim (BI-HTB 236)
  • 1973 mit Oswald Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Bibliographisches Institut, Mannheim u. a., verbess. Aufl. ²1975, unveränd. Nachdruck 1982 (BI-HTB 700)
  • 1974 Konstruktive Wissenschaftstheorie. Suhrkamp, Frankfurt (stw 93)
  • 1978 Theorie der technischen und politischen Vernunft. Reclam, Stuttgart
  • 1978 mit Kuno Lorenz: Dialogische Logik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
  • 1984 Elementargeometrie. Das Fundament der Analytischen Geometrie. Bibliographisches Institut, Mannheim u.a ISBN 3-411-00400-2
  • 1985 Grundbegriffe technischer und politischer Kultur. Zwölf Beiträge. Suhrkamp, Frankfurt (stw 494)
  • 1987 Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie. Bibliographisches Institut, Mannheim 1987; Metzler, Stuttgart ²2000 ISBN 3-476-01784-2.
  • 1987 Constructive Philosophy. Transl. by Karl Richard Pavlovic. Amherst, USA: University of Massachusetts Press, 1987. ISBN 0870235648 / ISBN 9780870235641. [Enthält vor allem Übersetzungen von den Aufsatzsammlungen Methodisches Denken 1968 und Konstruktive Wissenschaftstheorie 1974.]
  • 1992 Diesseits von Idealismus und Realismus in: Janich, Peter (Hrsg): Entwicklungen der methodischen Philosophie. Suhrkamp, Frankfurt S. 207-217 (stw 979)

Literatur

  • Paul Bernays: Bemerkungen zu Lorenzen's Stellungnahme in der Philosophie der Mathematik. in: Kuno Lorenz (Hrsg), Konstruktionen versus Positionen. Beiträge zur Diskussion um die konstruktive Wissenschaftstheorie. Band I: Spezielle Wissenschaftstheorie. de Gruyter, Berlin 1978
  • Rudolf Kötter und Rüdiger Inhetveen: Paul Lorenzen Philosophia Naturalis 32 (1995), 319-330
  • Florian Rötzer: Paul Lorenzen (Gespräch) in: ds. (Hrsg): Denken, das an der Zeit ist. Gespräche mit deutschen Philosophen. Suhrkamp, Frankfurt 1987 (es 1406)
  • Horst H von Boreszkowski: Messung als Begründung oder Vermittlung? Ein Briefwechsel mit Paul Lorenzen über Protophysik und ein paar andere Dinge academia Verlag _Richarz GmbH 1995 ISBN 3883458740
  • Eberhard Scheibe: Nachruf Paul Lorenzen Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, 1996, 251-259
  • Diane Loring Souvaine: Paul Lorenzen and constructive mathematics. ?
  • Christian Thiel: Lorenzen, Paul in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2, Bibliographisches Institut, Mannheim u.a 1984, S. 710-713
  • Carl Friedrich von Weizsäcker: Wahrnehmung der Neuzeit. Hanser, München u. a. 1983 ISBN 3-446-13856-0
  • Harald Wohlrapp: Paul Lorenzen, in: Bernd Lutz (Hrsg.): Metzler Philosophen Lexikon. Metzler, Stuttgart 3. Auflage, 2003, S. 420-424

Einzelnachweise

  1. Der Name Lorenzen wird auf der zweiten Silbe betont.
  2. unter anderen von der ersten Schülergeneration: Kuno Lorenz, Carl Friedrich Gethmann, Friedrich Kambartel, Peter Janich, Oswald Schwemmer und Christian Thiel
  3. in der Erstauflage 4 Bände, 1980–1996, seit 2005 ist eine auf acht Bände ausgelegte zweite, neubearbeitete und wesentlich ergänzte Auflage im Erscheinen
  4. neben Joachim Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie
  5. 1965 Differential und Integral.
  6. siehe etwa 1978 S. 65
  7. 1984: Elementargeometrie. Das Fundament der Analytischen Geometrie.
  8. seit der Elementargeometrie 1984
  9. etwa die relativistische_Periheldrehung des Merkur oder anderer Planeten oder die Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld großer Sterne wie der Sonne
  10. vgl. Lorenzens Interpretation 1978 der Arbeit Steven Weinbergs an einer Vereinheitlichung von Gravitation und Kosmologie
  11. siehe das 1969 erschienene Buch Normative Logic and Ethics., dass Lorenzens John-Locke-Vorlesungen in Oxford zusammenfasst
  12. anfangs mit Oswald Schwemmer 1973
  13. innerhalb der Erlanger Schule wurde das Buch BI 700 (Verlagsnummer des Buches) genannt
  14. Aus einem Katzenembryo kann eine Katze werden, aber kein Hund. Dies ist bei Lorenzen zwar eine wissenschaftliche Spielart des Wortes kann, terminologisch potentiell, aber es wurde von ihm nicht modallogisch ausgearbeitet.
  15. Carl Friedrich von Weizsäcker: Wahrnehmung der Neuzeit S. 398