Kollisionsregel

Eine Kollisionsregel dient in der Rechtswissenschaft der Auflösung einer Normenkollision: Wenn auf einen Sachverhalt verschiedene Rechtsnormen anwendbar sind, entscheidet die Kollisionsregel, welche der Rechtsnormen vorrangig ist und damit andere Rechtsnormen verdrängt.[1]

Kollisionsregeln knüpfen dabei an bestimmte Eigenschaften der kollidierenden Rechtsnormen an. Welche Rechtsnorm jeweils anwendbar ist, wird im Kollisionsrecht geregelt.

Ein Sonderfall der Kollisionsnorm, der ein Verhältnis mehrerer Rechtsnormen besonders regelt, ist die Relationsnorm.

Allgemeine Kollisionsregeln

Lex-specialis-Grundsatz und Subsidiaritätsgrundsatz

Lex specialis derogat legi generali: Das speziellere Gesetz verdrängt das allgemeine. Danach geht die genauere Rechtsnorm der generellen vor.

Mit dem Lex-specialis-Grundsatz ist der Subsidiaritätsgrundsatz verwandt. Danach findet die subsidiäre Rechtsnorm nur Anwendung, sofern ein Sachverhalt nicht durch eine andere Rechtsnorm geregelt ist.

Sollte ein älteres Sondergesetz und ein jüngeres allgemeines Gesetz zusammentreffen, so geht das ältere Sondergesetz vor. „Lex posterior generalis non derogat legi priori speciali“: Ein späteres generelles Gesetz hebt ein früheres Sondergesetz nicht auf.[2]

Lex-posterior-Grundsatz

Lex posterior derogat legi priori: Das spätere Gesetz verdrängt das frühere. Also geht die neuere Norm der älteren vor.

  • Beispiel einer Kollisionsnorm nach dem Lex-posterior-Grundsatz ist Art. 72 Abs. 3 Satz 3 GG n.F.: „Auf den Gebieten des Satzes 1 [Abweichungsbefugnis der Länder] geht im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vor.“

Lex-superior-Grundsatz

Lex superior derogat legi inferiori: Das höherrangige Gesetz verdrängt das niederrangige. Also geht die Norm auf der höheren Stufe der Normenhierarchie der nachrangigen vor.

  • Ein Beispiel für eine Kollisionsnorm nach dem Lex-superior-Grundsatz ist der Satz „Bundesrecht bricht Landesrecht“, wie er in der Bundesrepublik durch Art. 31 GG festgeschrieben ist. Die Bestimmungen der Art. 21 und 109 der Landesverfassung Hessens über die Verhängung der Todesstrafe[3], welche landesrechtlich bis 2019 formell in Kraft waren, waren daher seit Inkrafttreten des Grundgesetzes obsolet.[4]

Intertemporales Recht

Nach einem Grundsatz des intertemporalen Rechts gilt für einen Sachverhalt immer die zur Zeit seines Ablaufs geltende Norm, sofern eine später erlassene Norm keine Rückwirkung entfaltet.

Besondere Kollisionsregeln

Tarifvertragsrecht

Sind Arbeitnehmer eines Betriebs gleichzeitig an kollidierende Tarifverträge gebunden, spricht man von Tarifkonkurrenz.[5] Nach der politisch umstrittenen Neuregelung in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG kann dann gerichtlich festgestellt werden, dass nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die in diesem Betrieb die meisten Mitglieder hat.[6]

Kollision von Grundrechten

Die Kollision von Grundrechten wird im Wege der praktischen Konkordanz gelöst.

Internationale Kollisionsregeln

Der Fall der Kollision von Rechtsnormen verschiedener Staaten auf dem Gebiet des Privatrechts wird durch das internationale Privatrecht erfasst, das auch Kollisionsrecht genannt wird.

Die Kollision von Normen des Steuerrechts verschiedener Staaten wird von Doppelbesteuerungsabkommen erfasst.

Bei der Kollision von Vorschriften des Zivilprozessrechts verschiedener Staaten greift das internationale Zivilverfahrensrecht.

Europäische Union

Bei der Kollision von Unionsrecht und nationalem Recht der Mitgliedsstaaten gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts.

Kollisionen der unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen werden durch die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen aufgrund Art. 81 AEUV zunehmend EU-weit einheitlich geregelt.[7] Dazu bestimmen beispielsweise die Europäische Güterrechtsverordnungen oder die Erbrechtsverordnung, welches Gericht bei grenzüberschreitenden Streitigkeiten zuständig ist und welches materielle Recht es bei der Entscheidungsfindung anwendet.[8][9][10]

Literatur

  • Kai Engelbrecht: Die Kollisionsregel im föderalen Ordnungsverbund. Mohr Siebeck 2010. ISBN 978-3-16-150311-5 (zu Art. 31 GG)
  • Lars Viellechner: Berücksichtigungspflicht als Kollisionsregel. Zu den innerstaatlichen Wirkungen von völkerrechtlichen Verträgen und Entscheidungen internationaler Gerichte, insbesondere bei der Auslegung und Anwendung von Grundrechten, in: Nele Matz-Lück, Mathias Hong (Hrsg.): Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen, Springer-Verlag 2012, S. 109–159. ISBN 978-3-642-24680-7

Einzelnachweise

  1. Röhl, Klaus F./Röhl, Hans Christian: Allgemeine Rechtslehre. Ein Lehrbuch. 3. Auflage. Carl Heymanns, Köln 2008, ISBN 978-3-452-26001-7, S. 154, 156.
  2. Liebs, Detlev: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. 4. Auflage. Beck, München 1982, ISBN 3-406-08702-7, S. L. 44.
  3. http://www.verfassungen.de/he/verf46-i.htm
  4. Hessen schafft erst jetzt die Todesstrafe ab. 25. März 2019, abgerufen am 18. Oktober 2020 (deutsch).
  5. Thomas Dieterich: Tarifeinheit Hans-Böckler-Forum zum Arbeits- und Sozialrecht, 8./9. März 2007
  6. BVerfG, Pressemitteilung Nr. 73/2015: Anträge auf einstweilige Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz erfolglos vom 9. Oktober 2015.
  7. Udo Bux, Mariusz Maciejewski: Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Europäisches Parlament, Juni 2022.
  8. vgl. Rainer Hüßtege, Heinz-Peter Mansel: Bürgerliches Gesetzbuch: Rom-Verordnungen, EuGüVO, EuPartVO, HUP, EuErbVO. Nomos-Verlag, 3. Auflage 2019. ISBN 978-3-8487-4587-6.
  9. Welches nationale Recht ist anwendbar? Europäisches Justizielles Netz, abgerufen am 17. März 2023.
  10. vgl. auch Anja Sophia Schwemmer: Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht. Integrationspolitische Zielsetzungen und das Prinzip der engsten Verbindung. Mohr Siebeck, 2018. Inhaltsverzeichnis.