Tschuktscho-kamtschadalische Sprachen

Verbreitung der tschuktscho-kamtschadalischen Sprachen im 17. Jahrhundert (rot schraffiert) und im 20. Jahrhundert (rot)

Die tschuktscho-kamtschadalischen Sprachen (früher auch luorawetlanische Sprachen genannt) sind eine kleine Familie von fünf genetisch verwandten Sprachen, die in Nordostsibirien – genauer auf den russischen Halbinseln Tschukotka und Kamtschatka – von zusammen etwa 14.000 Menschen gesprochen werden. Alle diese Sprachen sind vom Aussterben bedroht, das gilt auch für die mit Abstand sprecherreichste Sprache dieser Gruppe, das Tschuktschische mit rund 10.000 Sprechern auf der Halbinsel Tschukotka.

Die tschuktscho-kamtschadalischen Sprachen werden mit anderen sibirischen Sprachen zu der Gruppe der paläosibirischen Sprachen zusammengefasst. Die paläosibirischen Sprachen bilden keine genetische Einheit, sondern eine Gruppe altsibirischer Restsprachen, die schon vor dem Eindringen uralischer, turkischer und tungusischer Ethnien dort gesprochen wurden.

Klassifikation, Sprecherzahlen und geographische Verbreitung

Die tschuktscho-kamtschadalischen Sprachen zerfallen in zwei Hauptgruppen, das Tschuktscho-Korjakische und das Kamtschadalische.

  • Tschuktscho-Kamtschadalisch
    • Tschuktscho-Korjakisch
      • Tschukot
        • Tschuktschisch (Tschukot) (7.700 Sprecher, ethnisch 15.000)   Tschukotka
      • Korjak-Aliutor
        • Korjakisch (Nymylan) (3.500, ethnisch 7.000)   Süd-Tschukotka, Nord-Kamtschatka
        • Aliutorisch (200, ethnisch 2.000)   Kamtschatka
        • Kerek †   Tschukotka (Kap Navarin)
    • Kamtschadalisch
      • Itelmenisch (Kamtschadalisch) (max. 100 Sprecher, ethnisch 2.500)   Süd-Kamtschatka

Es gibt Nachrichten und Aufzeichnungen von weiteren in den letzten Jahrhunderten ausgestorbenen Sprachen der kamtschadalischen Gruppe.

Die Sprachfamilie und ihre Mitglieder

Die tschuktscho-kamtschadalischen oder luorawetlanischen Sprachen bilden auch heute noch eine kleine Sprachfamilie im äußersten Nordosten Sibiriens. Der nördliche Zweig umfasst das Tschuktschische, mit 10.000 Sprechern die bedeutendste Sprache dieser Gruppe (auf der Tschukotka-Halbinsel im Autonomen Bezirk (AB) der Tschuktschen und verstreut in Jakutien). Das Korjakische (3.500 Sprecher, im AB der Korjaken), das Aliutor (noch 200 Sprecher, AB Korjak und Nord-Kamtschatka) und das inzwischen wahrscheinlich ausgestorbene Kerek (Tschukotka, Kap Navarin) sind so eng verwandt, dass eine wechselseitige Verständigung durchaus möglich ist und manche Forscher sie deswegen auch als Dialekte einer Sprache einstufen. Der südliche oder kamtschadalische Zweig weicht davon stärker ab und besteht heute nur noch aus dem Itelmenischen (noch maximal 100 Sprecher aus einer ethnischen Gruppe von 2.500, in der Süd-Kamtschatka und dem AB der Korjaken).

Tschuktschisch, Korjakisch und Itelmenisch sind Schriftsprachen auf Grundlage der kyrillischen Schrift, in denen in geringem Umfang Zeitungen und Bücher erscheinen. Die anderen Sprache der Gruppe sind schriftlos geblieben.

Die Bezeichnung Tschuktschen und Tschukotka sind eine russische Adaption des Namens einer Untergruppe der Tschuktschen; Luorawetlan ist die Selbstbezeichnung der tschuktschischen Stämme insgesamt, dieser Name wurde seit den 1920er Jahren zeitweise für die gesamte tschuktscho-kamtschadalische Sprachfamilie verwendet. Itelmen ist die Selbstbezeichnung der Itelmenen, die von den Korjaken Kamtschalo genannt wurden, was die Russen zur Bezeichnung des Volkes der Kamtschadalen und der Halbinsel Kamtschatka adaptierten. Heute hat sich die etwas umständliche Gesamtbezeichnung tschuktscho-kamtschadalisch für die gesamte Sprachfamilie durchgesetzt.

Beziehungen zu anderen Sprachfamilien

Eine besondere genetische Nähe der tschuktscho-kamtschadalischen Sprachen zu den eskimo-aleutischen Sprachen wurde von einer Reihe von Forschern angenommen, ist aber nie wirklich nachgewiesen worden. Diese These wurde im größeren Zusammenhang der eurasiatischen Makrofamilie von Joseph Greenberg wiederbelebt, in der das Tschuktscho-Kamtschadalische eine Komponente bildet.

Sprachcharakteristik

Bei den tschuktscho-kamtschadalischen Sprachen handelt es sich um inkorporierende Sprachen mit Split-Ergativität. (Man nennt eine Sprache inkorporierend, wenn in komplexe Verbal- oder Nominalformen auch andere sonst selbstständige Wörter – z.B. Substantive, Adjektive, Adverbien – fest eingebunden werden können. Im Gegensatz dazu können beim polysynthetischen Sprachbau die eingebundenen Elemente nur als abhängige Morpheme auftreten.) Beispiele der Inkorporation aus dem Tschuktschischen sind:

  • m?n-n?ke-ure-qepl-uwičwen-m?k
lasst-uns-Nacht-lang-Ball.spielen-wir
„wir wollen die ganze Nacht Ball spielen“
  • ga-mor-ik-tor-orw-ima
ga-…-ima Präposition „in“, mor-ik Possessivus 1.pl. „unser“, tor „neu“, orw „Schlitten“
„in unserem neuen Schlitten“

Die Kasusmarkierungen sind in den meisten Sprachen ergativisch, die Konkordanz des Verbs weist dagegen eine Split-Ergativität auf: Präfixe kennzeichnen das Subjekt, Suffixe dagegen intransitive Subjekte und transitive direkte Objekte (Beispiele aus dem Tschuktschischen):

  • qə-viri-ɣe „mögest du herabsteigen“
  • m-imti-ɣət „ich möge dich tragen“

Das Tschuktschische besitzt eine besondere Form der Vokalharmonie. Der Reihe dominanter Vokale /e,a,o/ steht eine Reihe rezessiver Vokale /i,e,u/ gegenüber. Wenn ein Morphem eines Wortes einen dominanten Vokal enthält, werden alle rezessiven Vokale dieses Wortes in ihre dominante Version geändert. Zum Beispiel werden im Wort kupre wegen des dominanten /a/ des Suffixes /-ma/ das /u/ in ein /o/ und das /e/ in /a/ transformiert:

  • kupre „Netz“
  • ga-kopra-ma „mit einem Netz“

Eine kuriose Besonderheit einiger tschuktscho-kamtschadalischer Sprachen ist die geschlechtsspezifische Aussprache mancher Phoneme. So wird im Tschuktschischen in Frauensprache der r-Laut in bestimmten Positionen gern als /ts/ gesprochen. Diese Ausspracheform ist jedoch eher eine geschlechtsspezifische Attitüde als eine durchgehende Regel. Im Aliutor entspricht männliches /l/ oder /s/ in weiblicher Aussprache dem /ts/, z.B. plaku gegenüber ptsaku (Schuhwerk).

Eine dem ähnelnde Eigentümlichkeit verzeichnen seit jüngstem dortige Lautforscher auch in der heutigen Umgangssprache Pekings (Hauptstadt Chinas), welche in ihrer Geschichte seit Mitte des 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts unter der Herrschaft ursprungs (süd-) sibirischer Tungusen (Mandschuren) stand: Hier sprechen (insbesondere junge) Frauen bevorzugt — wie zur Betonung ihrer Weiblichkeit — die Reihe der flachen Vorderzungenlaute, ‎〈j〉‎, 〈q〉, 〈x〉, annähernd wie die entsprechenden Zischlaute 〈z〉, 〈c〉, 〈s〉 aus. Verwechslungen dadurch sind ausgeschlossen, weil beide Mitlautreihen sich auf ausnahmslos getrennte Folge-Selbstlaute verteilen (Merkmal „± Vorderzungenselbstlaut“), weshalb auch dieser Sachverhalt erst spät bemerkt wurde; so lautet in Pekinger ‚Männersprache‘ ihre Stadt 〈bei-jing〉, in ‚Frauensprache‘ dagegen beinah 〈bei-*zing〉 [eine Schreibung wie “*zing” ist im Hanyu Pinyin standardsprachlich nicht zulässig, daher der Stern]. Diese ihre Weiblichkeit betonende Aussprache wird zusammen mit anderen gleichartigen Kundgaben junger Frauen “dia” (嗲) genannt: ein Schriftzeichen, in dem rechts (links steht „Mund“) der mutmaßlich gewünschte Empfänger sichtbar wird: ein „älterer Mann“. (“Daddy”; zusammengesetzt aus „Vater“ + „viel“ [Geschenken?]).

Literatur

  • Bernard Comrie: The Languages of the Soviet Union. Cambridge Language Surveys. University Press, Cambridge u. a. 1981, ISBN 0-521-23230-9.
  • Michael Fortescue: Comparative Chukotko-Kamchatkan Dictionary. Mouton de Gruyter, Berlin u. a. 2005, ISBN 3-11-018417-6, (Trends in Linguistics - Documentation 23).